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Aus "Unser Schaffen"
Der Rothn Godl
Von Melitta Adler (Tante Metta)
Den Rothn Godl mag ein jeder gern leiden.
Schon in aller Früh sagt der Kaufmann, bei dem er Milch und ,,Strutzen“ kauft:
,,Der Godl wird uns einmal abgehen“, und das nicht etwa wegen seiner gewinnbringenden Einkäufe. Oh, nein, dem alten, freundlichen Mann ist eben jung und alt zugetan. Für die Fremden ist er ein gesuchtes Photomodell, denn einen so langen, weißen Bart findet man in Hallstatt auch schon selten. Sitzt der 91jährige Gottlieb Roth auf der Pensionisten- Bank, bittet ihn bald ein Kamerajäger, ihn mit Pfeife und Steirerhütl photographieren zu dürfen. Als auf dem Hallstätter Friedhof gefilmt wurde, erhob man ihn sogar zum Star.
Dieser alte Mann feierte voriges Jahr ein ganz seltenes Jubiläum. Vor 80 Jahren war er als bloßfüßiges Büblein zum ersten Mal in der Symonyhütte am Rande des Hallstätter Gletschers und nun konnte er sie als „Neunzigjähriger“ wieder besuchen.
Ja, ja, von seiner Kindheit gäbe es allerlei zu erzählen. Einmal sollte er der Mutter Knödlbrot schneiden. Weil er sich aber gar nicht beeilte, wollte ihn die Mutter durch eine wohlgezielte Ohrfeige zu größerer Schnelligkeit anfeuern. Schützend hob der Bub die mit dem Messer bewehrte Rechte. Da geschah das Furchtbare: Die scharfe Schneide öffnete Mutters Pulsadern und das Blut spritzte im Bogen aus der Wunde. Wenn auch der rasch herbeigeholte Arzt den Schaden zum Teil wieder heilen konnte, die Finger der Mutter blieben zeitlebens gekrümmt.
Als Godl 13 Jahre alt war und die Schule verließ, galt es, sich um einen Broterwerb umzusehen. Es gab allerlei Gelegenheitsarbeiten. So wurde damals vor 76 Jahren, der „Rudolf“, das größere Schiff, erbaut, das heute noch den Hallstätter See befährt. Unser Godl wurde als Nietenbub engagiert. Der Schmied erhitzte die Nieten über einer Flamme, und wenn das Kommando „heiß“ ertönte, warf er sie vor unserem Godl auf den Boden, der sie mit einer Zange ergreifen und weiterreichen sollte. Das erste Mal ging die Sache schief, denn die glühende Niete traf die Nase des Buben, was ihm arge Schmerzen verursachte. Aber bald hatte er die notwendigen Handgriffe erlernt, und die Arbeit konnte flink vonstatten gehen.
Am schönsten war es, mit dem 80jährigen Friedrich Simony, dem berühmten Erforscher des Dachsteingebietes, im Gebirge umherzustreifen. Bald suchte man nach versteinerten Muscheln und Schnecken, dann wieder erforschte man eine Höhle, die „Schlösselkira“ auf dem Nordabhang des Dachsteinplateaus (Gosauer Seite), in der die Protestanten nach der Überlieferung zur Zeit der Gegenreformation Gottesdienst gehalten hatten. Als er schon im Hallstätter Salzberg eine fixe Stellung hatte, erhielt er einmal fünf Wochen Urlaub, um den Forscher in das Gebiet von Radstatt zu begleiten. „Da gab es“, so erzählte der Alte, „nur wenig Arbeit. Simony zeichnete viel, und ich mußte ihm Tusch reiben und andere Kleinigkeiten besorgen. Wenn er aber zum Photographieren ausrückte, mußte ich den schweren Apparat und das Stativ tragen.“
Mit 17 Jahren wurde er Bergmann, ein Beruf, der dem Hallstätter als Ziel vorschwebt, so lange Salzberg und Sudhütte genügend Arbeiter beschäftigen konnten. Jeden Montag um 10 Uhr vormittags machten sich die Bergleute auf den Weg ins Knappenhaus, das ihnen für fünf Tage der Woche Unterkunft bot. Die Arbeitsschicht dauerte Montag von 12 Uhr mittags bis 6 Uhr abends. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag wurde je 12 Stunden gearbeitet. Freitag wurde zu Mittag Schluß gemacht. Hatte sich unser Godl in den Stollen, Schächten und Werkern (Kammern), in denen das Salz durch Wasser gelöst wird, tagsüber redlich geplagt, begab er sich abends mit seinen Kameraden in die gemeinsame Küche, in welcher der Geimel (Heimwart) im großen Herd eingeheizt hatte und für jeden einen Topf mit siedendem Wasser bereit gestellt hatte. Nun formte jeder Bergmann aus Mehl, Wasser und Salz in einer Holzschüssel die alltäglichen Bergnocken, die nach dem Kochen noch in einem Stielpfandl abgeschmalzen wurden. Nach dem Essen ließ sich jeder sein Pfeifchen schmecken, denn während des Tages mußte man sich mit dem Tabakkauen begnügen.
Nur das Wochenende gehörte der Familie. Brennholz für den Haushalt mußte im Walde gefällt und im Winter mit dem Schlitten zu Tal gebracht werden. Dann galt es auch, das Dach des eigenen Häuschens zu decken oder den Ziegenstall auszubessern. Unser Godl, der noch nicht verheiratet war, mußte seinem Vater bei diesen Verrichtungen behilflich sein.
Während der Werktage durften die Knappen ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Nun hatte der Knappe Plieseis seinen Schatz unten im Ort, und die Sehnsucht trieb ihn auch während der Woche manchmal zu Tal. Bei einem dieser nächtlichen Ausflüge hatte er Pech. Plötzlich stand Bergrat Hutter vor ihm. ,,Wer da?“ dröhnte die Stimme des Gewaltigen. ,,Bernhard Faber“ lautete die Antwort, und schon war der Sünder im Dickicht verschwunden. Der Bergrat aber glaubte eine andere Stimme erkannt zu haben und scheute trotz Dunkelheit die Mühe nicht, zum Knappenhaus emporzuklimmen. Dort erkundigte er sich nach dem vermutlich Schuldigen. Als man jedoch nachsah, lagen Plieseis und Bernhard Faber scheinbar in tiefem Schlummer auf ihren Pritschen.
An einem Peterstag verspürte unser Godl gewaltigen Durst, und so suchte er das Bräuhaus auf. Hier fand er eine lustige Gesellschaft, die ihn zum Kegelscheiben verleitete. Er hatte seinen ganzen Wochenlohn von drei Gulden in der Tasche und nun gings ans Verspielen. Seinem Kollegen, der schon früher blank war als er, lieh er einen Gulden. Schließlich klimperten in seinem Hosensack nur noch 30 Kreuzer. Die mußten auch noch vertan werden. Bier und Schnaps wurden bestellt, und erst als gar nichts mehr vorhanden war, ging man befriedigt nach Hause.
Leise schlich Godl in seine Dachkammer, damit die Mutter ihn nicht höre. Am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, brummte sein Kopf, einerseits vom Alkoholgenuß, andererseits von den Sorgen, woher er das verlorene Geld für die nächste Woche hernehmen sollte. Da kam ihm ein rettender Gedanke: ,,Ich werde mit dem Lois auf a Gams gehen, da hätt’ mir wenigstens ein Fleisch im Haus.“ Er nahm seinen Stutzen aus dem sicheren Versteck und beriet mit dem Lois, er solle von der Kirche her hinter die Hauswänd steigen und ihm das Wild zutreiben, denn er, der Godl, wolle von der anderen Seite kommen, noch ehe der Freund seinen Stand erreicht hatte.
Unverrichteter Dinge mußten die beiden heimkehren. Als sie bei ,,Seeauer“ durch den Schwibbogen gingen, wurden sie angerufen: „I brauchat no an Biertrager zur Simony- Hütten, zwoa hab ich schon.“ Unserem Roth fiel ein Stein vom Herzen. Das war die richtige Gelegenheit, das nötige Geld zu verdienen. Er eilte heim, um sich vor der sechsstündigen Wanderung durch einen kräftigen Imbiß zu stärken; aber, o weh, niemand war zu Hause und zu essen fand er nichts als einen Laib Brot. Dann holten die drei im Bräuhaus ihre Bierfasseln, und nun ging es los. Seine Begleiter machten schon beim ,,Kroato“, dem Echerntalwirt, die erste Rast. Traurig sah er ihnen zu, wie sie sich labten, denn er hatte ja keinen Kreuzer in der Tasche. Beim Weitergehen jammerte der Bäcker Sepp, daß er den Weg mit der großen Last nicht dermachen könne und in der ,,Wies“, eine Stunde vor Erreichung des Zieles ließ er die Last wirklich zu Boden gleiten. Er versprach dem, der sein Faßl bis zur Hütte trage, die Hälfte seines Lohnes und Godl mußte wohl oder übel auch das noch auf sich nehmen. Im Schutzhaus hieß es nun Flaschenwaschen und Bier abzapfen. Dann erhielt man den verdienten Lohn, zwei Gulden, 30 Kreuzer. Unser Held kochte sich aus dem mitgebrachten Brot noch eine Suppe und um 3 Uhr morgens, der neue Tag war inzwischen angebrochen, gings nach Hallstatt. Hier hatte er gerade noch Zeit, Brot, Mehl und Schmalz in seinen Wochensack zu packen und den Weg zum Salzberg anzutreten. An dem Tag werden die Schläge seiner Hände wohl nicht so kräftig ausgefallen sein.
Endlich gründete Herr Roth eine eigene Familie. Aber der kärgliche Arbeitslohn reichte kaum aus, deren Bedürfnisse zu befriedigen. Da wurde es notwendig, sich um einen Nebenverdienst umzuschauen. Bald fand er eine ertragreiche und überaus interessante Tätigkeit: Grabungen auf dem vorgeschichtlichen Gräberfeld. Freilich hatte man die kostbarsten Funde schon längst geborgen, und der Kustos des Hallstätter Museums, der Obersteiger Engel, war nicht mehr willens, die Arbeit stundenweise zu entlohnen. Da machte ihm Roth folgenden Vorschlag: „Sie zahlen mich nur dann, wenn ich etwas finde.“ Das Glück war ihm hold. Einmal buddelte er ein wertvolles Schwert, dann wieder kostbare Armreifen, Fibeln aus Bronze oder Tongeschirre ans Tageslicht.
Als die Arbeit gänzlich ergebnislos wurde, mußten neue Verdienstmöglichkeiten gefunden werden. Da erinnerte sich Roth, wie er mit Friedrich Symony versteinerte Muscheln und Schnecken gesammelt hatte. Und er begann wieder an seinen freien Tagen nach solchen Zeugen früherer Meerestätigkeit zu fahnden. Mit den gesammelten Petrefakten belieferte er das Naturhistorische Museum in Wien, das Joanneum in Graz und selbst die Naturwissenschaftlichen Sammlungen in Düsseldorf, gebrochene Stücke wurden geschliffen und den Fremden als Reiseandenken verkauft. „Ohne diese Muschelsucherei hätte ich mir mein Häusel nie kaufen können“, erzählte er mir mit besonderem Stolz.
Nun ist der alte Bergmann längst im Ruhestand. Aber die Liebe zur Natur und zu seinen Bergen ist im Herzen wachgeblieben. Er weiß die besten Plätze, wo das Philicum (Maiglöckchen) blüht, ja sogar nach Grafenblümlein (Alpenprimeln) rückt er noch aus und versicherte mir, sie an völlig gefahrlosen Stellen zu pflücken, während manches junge Menschenleben ihretwegen zugrunde ging. Seine Enkel nahm er schon als Kinder in den Hochwald mit. Er lehrte sie, die Fährten des Wildes zu erkennen, die Stimmen der Vögel zu unterscheiden und Blumen und Beeren zu benennen.
Will man Vater Roth an schönen Frühjahrs-, Sommer- und Herbsttagen besuchen, muß man wohl früh aufstehen, sonst findet man seine Türe verschlossen. Kaum hat er sich in dem eiskalten Gletscherwasser des kleinen Bächleins, das an seinem Häuschen vorüberfließt, gewaschen, macht er sich gleich auf die Wanderschaft. Solange sein Freund Rastl noch lebte, unternahm er meist große, ja sogar zweitägige Ausflüge.
Einmal fuhren die beiden mit der Seilbahn auf die Gjaid, um auf steilen Pfaden ins Tal zurückzukehren. Dabei mußte Godl seinen erschöpften Freund das letzte Wegstück fast tragen. Ein andermal — zur Feier des schon erwähnten 80jährigen Jubiläums seines ersten Besuches in der Simony-Hütte — ließ er sich von der Seilbahn auf den Krippenstein befördern, von wo aus er den Weg zu dem Schutzhaus einschlug, dort übernachtete, und tags darauf über den Reitweg nach Hallstatt abstieg. Für sein Alter gewiß eine schöne Leistung!
Einer seiner Lieblingsgipfel ist der Plassen. Vor drei Jahren nahm er im Gipfelbuch Abschied von diesem Berg. Doch war er ein Jahr später wieder oben. An solchen Tagen finden seine Angehörigen, wenn sie ihm das Mittagessen bringen, einen Zettel, etwa mit den Worten: „Ich bin auf dem Hirlatz“, oder sonst irgendeine lakonische Auskunft. Seine Töchter machen dem Vater Vorwürfe, daß man ihm nicht einmal zu Hilfe kommen könne, wenn ihm etwas zustoße, dann antwortet er schlicht: ,,Im Wald zu sterben, wäre das Schönste für mich, denn er ist meine Kirche.“ Aber an den Tod denkt er nur selten.
Kann er wegen des schlechten Wetters keine weiteren Ausflüge unternehmen, zerkleinert er die Scheite in seiner Holzhütte oder wir finden ihn nachmittags als Kiebitz bei einer Tarockpartie beim „Grünen Anger“. Im Fasching holt ihn hie und da eine Maske zu einem kleinen Tänzchen. Unser aller innigster Wunsch ist es, daß ihm diese körperliche und geistige Frische bis an sein, hoffentlich noch recht fernes, Lebensende erhalten bleibe.
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