Susi Wallner besticht durch subtile Charakterstudien, in denen das Schicksal ‚einfacher‘, oft randständiger Menschen mit großer Empathie geschildert wird. Diese konsequente humanistische Perspektive darf trotz sporadischer nationalistischer Anflüge als das größte Verdienst ihres Schaffens betrachtet werden.
Walter Wagner auf der Webseite des Stifterhauses.
Der Begleiter in der Geschichte, der Salinenarzt von Hallstatt, war Dr. Wallner, Susi's Bruder.
Er war über 30 Jahre lang Salinenarzt in Hallstatt.
Die alte Leitnerin.
Aus "Gestalten aus Oberösterreich." 1912
Von Susi Wallner.
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Alle Tage in der Morgenfrühe stieg ich den Berghang aufwärts, der sich dicht hinter dem Orte emporbaute. Ich hatte meine Freude an dem sonnengoldigen Grün des Buchenwaldes und an dem lustigen Tanze, den die runden Schattenkringeln auf mosigem Boden aufführten, wenn ihnen der frische Bergwind aufspielte und die breiten, laubigen Äste den Takt dazu gaben.
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Alle Tage in der Morgenfrühe begegnete mir auf dem Zickzackwege ein altes Mutterl, klein, verschrumpft und mühselig, einen schweren Buckelkorb auf dem müden Rücken. Schneeweißes Haar lugte unter dem grobwollenen Kopftüchl hervor, der gestreifte Bauernrock war abgetragen und wies viele Flicken auf. Meinen freundlichen Morgengruß erwiderte die Alte stets nur mit einem unverständlichen Gemurmel. Dabei sahen mich die lichten, glanzlosen Augen fast feindlich an. Das Gesicht bestand schier aus lauter Falten; herbe, strenge Runen, die so tief eingeprägt schienen, als hätte sie schon seit Jahren kein Lächeln mehr geglättet.
Durch Wochen lang waren wir uns beinahe schon auf jeder Stelle des Weges begegnet. An, der drittletzten Reib stand ein Bankerl. Auf dem rastete sie gern. Einmal traf ich sie, just als sie aufstand und den Buckelkorb wieder auflud. Ich wollte ihr Beistand leisten, aber sie wehrte ab.
„Laßt's es nur steh'n, i brauch' neamt, weil mir eh neamt mehr helfen kann.“
„Das muß ich sagen,“ meinte ich, „freundlich seid's net, Mutterl !“
„Na!“ machte sie kurz, gab ihrem Korb einen heftigen Ruck und stapfte talwärts.
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Eines Morgens hatte ich auf meinem Spazierwege einen Begleiter; den Doktor des Ortes. Er hatte ganz oben auf dem Berge in einem entlegenen Gehöfte einen Besuch zu machen. Auf halbem Wege kam die seltsame Alte in Sicht.
„Bitte, Doktor,“ fragte ich, „wer ist das?“ Und in flüchtigen Worten erzählte ich ihm mein kürzliches Erlebnis.
„Sieht ihr ähnlich,“ bestätigte der Doktor. „Es ist die alte Leitnerin, eine Holzknechtswitwe, ein weiblicher Sonderling und meine geschworene Widersacherin. Sehen Sie, da biegt sie schon ab, um nicht an mir vorbei zu müssen.“
Die Alte hatte wirklich jäh Kehrt gemacht und kletterte nun mit ihrer Bürde einen steilen Richtweg hinab, der die bequeme Serpentine abschnitt. Ich war stehen geblieben.
„Ja, aber Doktor, warum ist sie Ihnen so feindlich?“
„Hm,“ machte er. „Die Frag' wäre bündig, aber zum Antworten brauch' ich mehr Worte als Sie . . ."
Er nahm den Hut ab und fuhr sich durch die schwarzen Haare, in die sich schon mancher graue Streifen mischte.
„Mir scheint sogar, ich muss Ihnen eine ganze Geschichte erzählen,“ setzte er bei, stieß seinen Stock auf den Boden und schickte sich zum Weitergehen an.
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„Ein besonderer Kopf muß die Leitnerin alleweil gewesen sein,“ begann er, „ich denke mir's wenigstens. Aufgefallen ist mir früher wohl nichts an ihr, aber das will nichts sagen. In Menschen, die still und wortkarg nach außen nur für die ihren schaffen, sieht man nicht hinein. Dann schon gar nicht, wenn sie einem gleiche gesellschaftliche Stellung nicht näher rückt. Sie hat ihre Häuslichkeit nett und sauber und fleißig zusammen gehalten und der Leitner hat allezeit kreuzvergnügt dreingesehen.
Vor sieben --- acht Jahren wird's gewesen sein, da werde ich eines Nachmittags in den Holzschlag des Steingrabenkogels gerufen. Ich solle nur so schnell als möglich kommen. Der Leitner liege oben in der ersten Holzknechthütte, ein stürzender Baum habe ihn getroffen. Als ich hinauf komme, finde ich die Leitnerin und ihre Tochter, die an einen Handwerker im Orte verheiratet war, schon oben. Sie müssen gelaufen sein – – –
Wie und wann das Unglück geschehen, erzählen mir die Holzknechte. Die Tochter weint und jammert, aber, die Alte kniet ohne Wort und ohne Träne neben dem Bewusstlosen und sieht mich nur immer an mit einem Blicke herzerschütternder Angst.
. . . Und ich kann ihr keinen Trost geben, denn die Untersuchung sagt mir, dass menschliche Hilfe so gut wie ausgeschlossen ist. Ein Taltransport des tödlich Verletzten ist unmöglich, so bette ich ihn selber so gut als möglich auf dem harten Lager und tue, was in meinen Kräften steht, um ihm das Sterben zu erleichtern. Wie ich mich endlich zum Gehen anschicke, folgt mir die Leitnerin vor die Tür hinaus, klammert sich mit beiden Händen an meinen Arm so fest, das der Griff schmerzte, und raunt mir heiser zu :
„Sie müssen bleiben und helfen Sie müssen zu was sind S' denn da? -
„Ich komme abends wieder herauf, Leitnerin,“ redete ich ihr zu, „was Menschen möglich war, ist geschehen --- es fallt mir ja selber schwer, dass ich Euch's sagen muss: schickt um einen Geistlichen. . .“
„Er stirbt?“ schreit sie auf und rüttelt mich. „Na, na, das kann net sein; er ist ja noch g'sund heut' fruah von mir gang'n . . . so einer kann doch nicht sterben?“
„Meine arme Leitnerin,“ antworte ich ihr, „da müßt" der Herrgott wohl ein barmherzig's Wunder tun.. . .“
„So soll er eins tuan,“ keucht sie, „so soll er ein barmherzig's Wunder tuan, wann er so ein grausames hat vollführen können.“
Da sie mich noch alleweil festhält, so habe ich Mühe, von ihr loszukommen. Es war gerade eine schlimme Masernepidemie im Orte und ich sage ihr, dass noch viele andere Kranke auf mich warten.
„Was scher'n mich die!“ fährt sie mich an. „Jesus Maria, jetzt soll der Mann versterben und ist noch g'sund und frisch von mir weggang'n!“
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Mein Begleiter machte eine kurze Pause in seiner Erzählung, stülpte den Hut mit einer heftigen Bewegung wieder auf den Kopf und fuhr fort:
„Dass ich es kurz sage, der abendliche Aufstieg wurde mir erspart. Ein Kamerad des Leitners kam herab mit der Botschaft, dass der Verunglückte gestorben sei."
Ich fragte der Leitnerin nach.
„O mein, Herr Doktor,“ meinte der Holzknecht, „is a harts Anseh'n. Sie sitzt neben seiner Leich' und kanns net glaub'n, dass er tot is, weil er in der Fruah no g'sund von ihr gang'n is.“
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Sie hat's doch glauben müssen!
Aber viel Lebenskraft hat sie's gekostet. Bislang war sie trotz der vorgeschrittenen Jahre ein stattliches, rüstiges Weib gewesen. Nach dem Tode ihres Mannes wurde sie innerhalb einer kurzen Zeit ein altes, graues Mutterl. Die Tochter hat sie zu sich genommen, denn auch der Schwiegersohn ist ein kreuzbraver Mensch gewesen.
„Hat eh noch a Glück, d' Leitnerin,“ sagten die Leute.
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Aber sie konnte ihren Mann nicht verschmerzen. Nach Wochen, ja nach Monaten, nach seinem Tode stand sie plötzlich vom Essen auf und schob einen Fleischteller oder ein Häferl Kaffee in die warme Röhre mit dem Vermerke: Für 'n Vater . . .
Auch wollte man wissen, dass sie es mit dem Beten nicht mehr genau nahm . . .
Mir wich sie aus, scheu und gedrückt, aber noch nicht so feindlich wie heute.
Nicht ganz in Jahresfrist nach dem tragischen Ende ihres Mannes wurde ihr Schwiegervater, der an Sonntagnachmittagen auf der Schießstätte als Zieler fungierte, von einem unvorsichtigen Schützen erschossen.
Der Schmerz der jungen Frau über den harten und so ganz unvorbereiteten Verlust war groß. Aber die Alte geberdete sich wie eine Verzweifelnde. Sie klagte sich an, der Tochter den Unsegen ins Haus gebracht zu haben: „Jetzt zeigt er mir sein' G'walt, der Herrgott, weil i ihm mein Mann net hab' verzeih'n können . . .
die grausamen Wunder – –
die grausamen Wunder.
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Mir fing schon an, um ihren Verstand ernstlich zu bangen, aber mit einem Male, beinahe über Nacht, rappelte sie sich auf. Sie wurde wieder ruhig, allerdings auch frommer als sie je gewesen.
Aber sie sorgte und schaffte mit unermüdlicher Sorgfalt um das Wohl ihrer verwitweten Tochter. Ihr Eifer hatte für den eingehenden Beobachter etwas Ungestümes, Ängstliches, als sei ihr drum, durch Liebe und Hingabe eine heimliche Schuld werktätig abzubüßen.
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Nur für einander lebend, hausten die beiden Frauen beisammen, bis vor zwei Jahren. Im Winter war es, in der Regierungszeit der Influenza, als auch die alte Leitnerin und ihre Tochter erkrankten. Letztere anscheinend an einem leichteren Anfalle, erstere an einem ungleich schwereren.
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Es war ganz rührend anzusehen, mit welch mütterlicher Besorgnis die alte Frau bei all ihrer Hinfälligkeit nur um ihre Tochter bemüht war . . .
Doch das Schicksal tat unbewegt das letzte, grausamste Wunder. Die Leitnerin wurde gesund, ihre Tochter aber kränkelte, bis sie plötzlich im Frühjahre eine heftige Lungenentzündung überfiel, an der sie zugrunde ging.
Ich war bei ihrem Ende zugegen. Die Leitnerin hatte sich in der letzten Zeit ganz unverständlich gefasst verhalten. Als ihr Kind den letzten müden Atemzug getan, faltete die Alte hilflos die Hände und sagte in dem stockenden Tone, in dem ein Schüler einen Satz abliest: „Jetzt hab' i nix mehr!“
Mit einemmal aber kehrte sie sich zu mir, zerrte mich am Rocke und schrie mir zu: „Sie hab'n S' versterben lass'n und mi net, warum denn mi net?“ Sie machte den Eindruck einer Irrsinnigen. Ich wehrte sie ruhig ab: „Rechtet mit dem Herrgott, Leitnerin, nicht mit mir.“
Sie duckte sich scheu von mir weg: „Na, na, net! Nit 'n Herrgott net, der nimmt und nimmt, wann er zornig is und leicht kunt er ein a-no die ewige Seligkeit verwehren. -- -- -- Aber Ihna kann is net verzeih'n, denn wegen Ihna muss i no umgeh'n auf derer Welt, in der i nix mehr z'such'n hätt'. So a unb'sinnte G'scheutheit verfluch' i!“
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Mein Begleiter atmete tief auf und blieb stehen. Wir hatten die Höhe des Berges erreicht und befanden uns auf einem kleinen Plateau, von dem man einen hübschen Rundblick hatte. Licht und freundlich um die hochrückige Kirche geschart, lag der Ort im Tale. Die Bergstraße, die wir gekommen, verlief sich wie ein weißer Faden zwischen den ersten Häusern.
Eben Jetzt trat aus dem grünen Schatten des Hochwaldes eine Frauengestalt hervor, klein und zierlich, wie ein Püppchen, auf ihrem Rücken hockte ein formloses, dunkles Etwas, gleich einem ungestalteten Gespenste.
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„Die Leitnerin mit dem Buckelkorb,“ sagte der Doktor und wies hinunter. „Die Leute zucken über sie die Achsel und meinen, „sie spinnt“.* Aber sie ist nur ein armes, unglückliches Menschenkind; deshalb trags ich ihr auch den ungerechten Groll gegen mich nicht nach. Und nun leben Sie wohl.“ Wir schüttelten uns die Hände.
Ich stand noch lange und hörte versonnen dem Rauschen der Buchen zu, die mit den breiten, goldig-grünen Ästen nach der Sonne langten.
Sie spinnt: sie ist verrückt.
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