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Die Hallstädtertrottel.

Fliegende Blätter — 11.1850 (Nr. 241-264)

Seite: 105


Sage aus dem Salzkammergut.

Von Renate. 1850



Nachdem der Wanderer von Ischl ausgehend, stromaufwärts ein paar Stunden in einem engen Thale fortgeschritten, immer am Ufer der Traun, die bald mit wildem Tosen, bald mit fröhlichem Gemurmel ihm entgegeneilt, zu beiden Seiten erst grüne Berghalden, dann immer steilere und höhere Felsen,öffnet sich plötzlich die Aussicht und der überraschte Blick fällt auf den wundervollen Hallstädtersee.

Felsen, deren Höhe das Auge sich zu messen scheut, zum Theil in den bizarrsten Formen, umschließen in engem Reigen ein Wasserbecken von mehrern Stunden im Umkreis. Schnell endet der Weg am Fuße des Sees für den Ankömmling und umsonst sucht das Auge auf den drei übrigen Seiten nach einem solchen zu Lande. Senkrecht und drohend steigen allerwärts die Felswände aus der Tiefe des Sees, höchstens für Vögel Anhalt bietend. Doch sieh! in schwindelnder Höhe zieht sich ein schmaler, nur wenige Fuß breiter Pfad die eine Felswand entlang, zwischen Alpenrosen und Alpengrün; aber nur Gemsen oder schwindellose, geübte Bergsteiger wagen sich darüber hin.

Heimlicher ist's sich im Schifflein fortzuwiegen, mitten im schönen, tiefen Blau des Sees, wie in einem Theil des Himmels. Und Gott ist nahe! So mahnt die tiefe Stille rings umher, die nur hie und da durch den fernen Schrei eines Gebirgsvogels, oder das fröhliche Jodeln eines Schiffermädchens unterbrochen wird. Eine kleine Wendung um einen Felsen fast am Ende des Sees und wir sind vor Hallstadt. Nein, nicht Hallstadt! ein Bild der träumerischen Phantasie! ein Bild aus einem Feenmährchen.

Die riesigen Felsen öffnen sich hier, einer engen Schlucht Raum gebend, an deren Eingang, eine steile Felswand hinan, nicht amphitheatralisch, nein, wie hingemalt, sich die Häuser von Hallstadt aufeinanderreihn, verbunden durch kleine Stiegen oder fußbreite Pfade, so daß man meist vom Dache des Einen zum Erdgeschoß des Andern steigen kann. Mitten im Orte, hoch oben eine Mühle mit einem rauschenden Wasserfalle, der mit rasender Eile sich den Weg zum See sucht.


Grauen, Lieblichkeit und Pracht wohnen hier dicht nebeneinander, und nie erscheint dieser Contrast stärker, als an einem schönen klaren Sommermorgen. Die Strahlen zurückgeworfen durch die weißen Felsenriffe und den Wasserspiegel erzeugen ein wahres Meer von Glanz. Jede Welle ist Feuer, jeder Tropfen am Ruder ein leuchtender Diamant. Man gedenkt des Glanzes vor Gottes Thron, dessen Helle kein Menschenauge ertragen kann. Dazu das frische, saftige. lichtdurchglühte Grün der Vegetation. Wie man es nur in den Alpen findet. Klarheit über, unter uns. Von weichen, balsamischen Lüften umfächelt, und nur wenige Ruderschläge weiter — und die finstre Schlucht von Hallstadt gähnt uns an. deren eisigen Hauch nur spärlich und spät am Tage ein einsamer Sonnenstrahl erwärmt.


Weiter als in diese Schlucht um den dortigen großen Wasserfall. den sogenannten Strupp zu besehen, dringt selten eines Fremden Fuß. Die allerwärts eng aneinandergerückten, senkrechten Felswände scheinen, so wie den Sonnenstrahlen, so auch den Menschen jedes weitere Eindringen zu verwehren. Doch eben hier und in den angrenzenden Gebirgsstöcken des Dachsteins umschließt die Natur ihre herrlichsten Kleinodien. Blinkende Seen, wie verlorne Edelsteine, am Fuße von Eisregionen, gefahrvolle Pfade mit unvergleichlichen Fernsichten. Alpenblumen so zart und duftig, wie von Elfenhand gewoben. Felsenzacken so abenteuerlich wie die Sagen, die sich daran knüpfen. Und auch die schneidendsten Kontraste vermittelt durch die Allem gemeinsame, unaussprechliche Schönheit.


Das sind die Schätze, die sich hier in reicher Fülle dem Beschauer bieten, dem getreuen, liebenden Sohn der Natur, der weder Hinderniß. noch Anstrengung und Gefahr scheute, um bis hieher zu dringen. Hier in lautloser Stille redet sie in einer Sprache zu ihm, die der Alltagswelt fremd, in einer Sprache, die nur die Tiefe der Seele kennt.

Ein lebenskräftiger, treuherziger Schlag Menschen wohnt auf den Bergen, in den Thälern Salzkammerguts, die die Natur so verschwenderisch mit Reiz geschmückt. Nur in Hallstadt selbst ist es anders.

Das wonnetrunkne Auge des zum ersten Male dort Landenden sucht unwillkührlich die Gestalt der Bewohner in Einklang mit der Herrlichkeit zu bringen, die es um sich schaut, und sieh da! dicht am Ufer fällt der Blick auf eine Schaar halb Eckel, halb Entsetzen erregender Geschöpfe, halb Thier, halb Mensch, klein, plump, mit unförmlichen Köpfen und blödsinnigen, häßlichen Gesichtern, großen Kröpfen und Höckern und sonstigen Verkrüppelungen und Verunstaltungen aller Art. Sie drängen lärmend und streitend näher. Sprechen sie? Nein, sie lallen nur unverständliche, unartikulirte Laute und strecken die Arme aus um zu betteln. Sind's Kobolde, die jene Schwalbennester der Felswand bewohnen und den Fremden den Eintritt wehren? oder sind's menschliche Wesen, die die Natur verthieren ließ zur Strafe für das Eindringen in ihre Prachtregionen, die sie hier mit so dräuenden Zinnen schützte? oder ist es der Fluch der Unvollkommenheit, der an allem Erschaffnen haftet, und der hier zur Ausgleichung die Menschen um so mehr traf, als das Land so bezaubernd schön?


Wie dem auch sei, es ist der Cretinismus in seiner scheußlichsten Gestalt und so häufig vorkommend, daß man glauben könnte, ganz Hallstadt sei mit Cretinen*) bevölkert.

*) In der dortigen Landessprache werden diese „Trotteln" genannt.

Die Enge der Thalschlucht bei der himmelanstrebenden Höhe der Felsen, die nur um die Mittagszeit den Sonnenstrahlen Eintritt gewähren, die beständige Feuchtigkeit der an den Bergwänden klebenden, beinahe unterirdischen Wohnungen machen diese schreckliche Entartung der Menschennatur wohl für immer hier einheimisch.



I.


Es war Allerheiligen. Im alterthümlichen Kirchlein von Hallstadt ward Frühgottesdienst gehalten. Hunderte von Lichtern flimmerten für die Todten einem frommen Gebrauch zur Folge und neben den Kerzen murmelten die Lippen leise Gebete für die Abgeschiedenen. Die Orgel begleitete das Amt und ihre bald rauschenden, bald Nagenden Töne erreichten auch das Ohr einer einsamen Beterin, die außerhalb der Kirche an einem einfach aber sorgfältig geschmückten Grabe kniete.


Die letzten Akkorde erklangen wie versöhnend und tröstend und schienen auch beruhigend auf sie zu wirken, denn nachdem sie erst lange gebetet und dabei heftig geweint hatte, stand sie nun auf trocknete ihre Thränen und lehnte dann unbeweglich und lautlos am ärmlichen Kreuze. Wer sie so gesehen hätte, die hohe, schlanke, obgleich kräftige Gestalt beinahe ganz verhüllt unter einem großen, grauen Regentuche, mit trübem Blicke in den See hinausstarrend, einen Zug tiefen Leids in dem sonst blühend frischen Gesichte, hätte das junge Mädchen eher für ein meisterhaft aus Stein gehauenes Grabmal, als für ein lebendes Wesen gehalten.


Schwere Schneewolken hingen über den Bergen und schienen an mehreren Stellen Eins zu sein mit dem dichten Nebel, der über dem See lagerte. Ein scharfer, durchdringender Wind trieb den Gischt des Wassers in feinem Regen bis zum Kirchhof und wühlte im Giebel, Gestalten bildend, die gleich Geistererscheinungen, auf dunklerm Grunde gegen die Spitze der Berge zogen.


Das Mädchen schien den Frost nicht zu fühlen, hingegen eine Art Genuß in der düstern Aussicht zu finden, wie sie heute der Kirchhof bot — derselbe Kirchhof, der weitberühmt ist unter Künstlern und Naturfreunden ob seiner heitern und poetischen Lage bei klarem Himmel.


Versunken in den Anblick der Nebelgestalten. hatte sie nicht bemerkt, wie beim Verklingen der letzten Orgeltöne einzelne Andächtige aus der Kirche traten, denen bald mehrere und mehrere folgten, die nun zwischen den blumengeschmückten Gräbern hin-und hergingen, diese mit Weihwasser besprengten und still dazu beteten, mitunter auch halblaut plauderten.

„Schaut nur die arme Klara an,“ sagte eine gutmüthig, aber ärmlich aussehende alte Frau zu einem noch ziemlich jungen reichgekleideten Weibe, das am Grabe seines erst vor einem Jahre gestorbenen Mannes andächtig den Weihwedel schwenkte, wie blaß sie aussieht und wie sie dasteht als säh' und hörte sie gar nicht. Das arme Kind wird gewiß noch krank vor lauter Kummer um den todten Vater."


„Thätest wohl besser, dich um ehrliche Christenmenschen zu kümmern, als um so eine Ketzerin, die doch nicht besser ist als eine Heidin, wie unser Herr Pfarrer sagt. Und was ihr Herzeleid betrifft, so wird's nicht so weit her sein, kann sie doch liebäugeln mit allen Männern. Weiß nicht, wo der reiche Müller hingeschaut hat, daß er sich in die Larve vergafft. Der hätt' sich doch was Gescheidtres aussuchen können."


„Euch vielleicht.“ murmelte die Alte zwischen den Zähnen, und fügte dann laut hinzu: „Redet doch nicht so gottlos heut am heiligen Tage. Wenn die Klara Allen gefällt, so kann sie wahrhaftig nichts dafür. Liebäugeln thut sie mit Keinem, und der reiche Müller ist ihr obendrein zuwider!"


„Braucht schon noch heikel zu sein auch die dumme Dirne.“ brummte die Andre, „nächstens wird sie doch vor unsrer Thür betteln sammt ihrer Mutter, wenn's ihr nicht gelingt, mit ihren Listen den Müller einzufädeln. Wie sich die Ketzerin nur getrauen mag hier unter uns zu beten.“

„So arm ich bin, bei meiner Thür soll sie immer ein Stück Brod finden. Aber besser. Gott' behüt' sie vor solchen Wegen. Ist abscheulich kalt heute, der Nebel dringt Einem bis ins Mark. Behüt' Gott. Frau Nachbarin, muß heimgehen, mein Alter wartet nicht gern lange auf seine Suppe.“


So lauteten mehr oder minder die Urtheile über Klara, die bald von den Meisten bemerkt worden war. Die Wenigsten ließen ihr Gerechtigkeit widerfahren, indem sie ihre Sittsamkeit, ihren Fleiß, ihre Dienstwilligkeit rühmten, und Alle, selbst die Männer, die im Allgemeinen billiger waren, da sie sie nicht um ihrer Schönheit willen beneideten, konnten nicht umhin, etwas Ungehöriges an ihrem Hiersein zu dieser Zeit zu finden.


Sie schien das selbst zu fühlen, denn nachdem sie das halblaute Gespräch der beiden Bäuerinnen, von dem sie einzelne Worte erreicht, aus ihrer Betäubung erweckt hatte, hüllte sie sich tiefer in ihr Tuch und kniete nochmals am Grabe nieder, scheinbar, um fortzubeten. in der That aber um so weniger bemerkt zu werden, denn sie blickte unruhig über ihre gefalteten Hände hinweg, bis sie zu ihrer Freude bemerkte, daß der Kirchhof sich leerte, weil der Frost die Leute heimtrieb. Als sie wieder allein war, drückte sie noch einen Abschiedskuß auf die theure' Stelle und eilte rasch von dannen.

Beim Vorbeistreifen an der Kirche schien es ihr, als bewege sich etwas in der Kirchthürecke.


Sie meinte, es sei ein Kind, das sich vielleicht verspätet, und mitleidig wie sie war, ging sie darauf zu. An den unförmlichen Umrissen des zerlumpten Geschöpfs, das wie erstarrt an dem gothischen Pfeiler lehnte, erkannte sie bald, daß es eine Trottel sein müsse, und wunderte sich, wie man sie habe vergessen können. Zum Glück für diese armen Wesen nämlich, pflegen ihre Angehörigen sie gewöhnlich mit liebreicher Sorgfalt, dem frommen Glauben zufolge, daß eine Trottel dem Hause Glück bringe.

Auf Klaras freundliche Anrede hob die Trottel den Kopf, und jene erblickte nun erstaunt ein uraltes, runzliches Gesicht, während sie der Größe nach erwartet hatte, ein Kind zu finden, und unter den eisgrauen Wimpern blickten sie ein paar blitzende Augen so durchdringend an, daß sie beinahe davor erschrack.

„Wie kömmst du hieher?" frug sie sie endlich. „ich kenne dich nicht, du bist nicht aus Hallstadt."


Die Alte schüttelte mit dem Kopfe, wies gegen die Berge hin, und hauchte in ihre erstarrten, runzlichen Hände, zum Zeichen, daß sie friere. In der That konnte sie sich nur zitternd aufrecht halten, und es war zweifelhaft, ob mehr aus Altersschwäche oder vor Hunger und Kälte.

„Nicht wahr, du frierst, und ich bin so einfältig, dich da auszufragen. Komm mit, dann kannst du dich an unserm Feuer wärmen. Oder kennst du Jemand im Orte? Soll ich dich in ein andres Haus führen?"

Die Greisin verneinte und erhob bittend die Hände.

„So komm nur. ich führe dich, und was wir armen Leute dir thun können, geschieht von Herzen gerne."


Die Alte schritt rascher als Klara dachte, und nachdem sie bald Stufen binauf, bald Stufen hinunter überschritten, bald sich durch enge, schlüpfrige Steige durchgewunden hatten, blieb noch eine mäßige Anhöhe zu erklimmen, und sie standen vor Klaras Hütte, dem am höchsten liegenden und deßwegen auch wohl gesündesten Wohnorte von Hallstadt. Klara hatte still sinnend über ihre seltsame Begleiterin den Weg zurückgelegt. und darüber eine Weile beinahe das eigene tiefe Leid vergessen. Wer war sie wohl? und woher? und warum so allein bei ihrem Alter und ihrer Hilflosigkeit? War sie eine Trottel, wie ihre Gestalt verrieth, oder war sie blos Mißgestalt und stumm? Sie schien nichts weniger als blödsinnig. All dies und mehr waren Fragen, die sie sich nicht zu beantworten wußte.


Klaras Mutter, die ihrer schwachen Gesundheit wegen an diesem rauhen Tage daheim geblieben war, und eben eifrig in ihrer Bibel las, empfing herzlich den unerwarteten Gast. Schnell ward ihr der beste Platz am warmen Kachelofen eingeräumt, der beinahe die ganze Höhe des niedrigen Stübchens einnahm, und das Einzige, was der ärmliche Haushalt bieten konnte, ein Stück schwarz Brod und Ziegenkäse ihr vorgesetzt. Die arme Alte schien nicht hungrig, hingegen gewaltig müde, denn obwohl sie mit ihren Geberden eifrig dankte, rührte sie doch nichts von dem Angebotenen an, und nachdem sie ihre erstarrten Glieder erwärmt, rückte sie tiefer in die Ofeneeke, wo sie bald darauf einschlief.

Als Klaras Mutter die Alte schlafen sah, winkte sie die Tochter zu sich, die eben wieder hereintrat, nachdem sie sich ihres vom Nebel durchnäßten Gewandes entledigt hatte, und frug sie begierig, wie sie zu der Alten gekommen sei.

Was Klara wußte, oder vielmehr nicht wußte, war bald gesagt. und nach kurzem Hin- und Herreden ward für jeden Fall beschlossen, sie in der Hütte zu behalten und bestmöglichst für sie zu sorgen, bis ihre Angehörigen nach ihr fragen und sie zurücknehmen würden.


Aber es vergingen Tage und Wochen, Niemand erschien.

Niemand wußte etwas von der alten Trottel. Es hatten sie wohl die meisten Kirchgänger am Allerheiligenfest an der Kirchthüre bemerkt; allein Niemand hatte sich um sie bekümmert,

und wie sie dahin gekommen, woher, wer sie sei, wußte ebenfalls Niemand.

In Klaras Häuschen gewöhnte man sich nach und nach sie als Hausgenossin zu betrachten und sie wäre den zwei Bewohnerinnen desselben sogar sehr lieb geworden, hätte sie nicht manches Unheimliche an sich gehabt, das sie zuweilen in Unruhe versetzte. So war sie oft Stunden, ja halbe Tage lang abwesend, oft bei tiefem Schnee oder erstarrender Kälte; aber Niemand sah sie gehen. Niemand kommen. Niemand wußte, wo sie mittlerweile gewesen. So war auch nicht zu begreifen, wovon sie lebte.

Sie nahm dankbar Alles an, was man ihr reichte, nie aber sah man sie etwas zu sich nehmen. Klara und ihre Mutter dachten zuletzt, sie nehme nur Nahrung zu sich in der Zeit ihrer Abwesenheit. Das Sonnenlicht schien sie nicht wohl ertragen zu können. So wie die Sonne schien, schloß sie die Augen, und beim Eintritt der Abenddämmerung ward sie munter. Uebrigens war sie gutmüthig, und ihr altes verwittertes Gesicht hatte nicht das Thierisch abstoßende der andern Trotteln. Ihre kleinen, tiefliegenden Augen blickten sogar ungewöhnlich klug, und sie schien in hundert Fällen mit hellerm Wissen oder richtigerm Instinkt begabt als andere Leute. Brachte sie der Ziege Kräuter heim, die sie Gott weiß wo unter dem Schnee entdeckt, so gab , diese sicher nochmal so viel und bessere Milch. Ergriff sie die Spindel, so spann sie in unbegreiflicher Schnelligkeit einen Faden so gleich und fest, wie kaum die geübteste Spinnerin. Einmal, bei ziemlich schönem Wetter, wollte Klara fort, um unter den Tannen der Berghalde Reisig zu sammeln. Da klammerte sich die Trottel ängstlich an das Mädchen, und warf sich ihr endlich in den Weg, mit allen möglichen Geberden vor dem Weitergehen warnend. Klara gab nach und blieb. Bald darauf brach ein Unwetter los, so fürchterlich, wie seit Jahren keines mehr gewesen. Der Sturm entwurzelte die größten Tannen, daß sie dalagen, wie vom Blitze gefällt oder in die Abgründe rollten.


Seit dieser Zeit ward die Trottel in dem kleinen Häuschen trotz ihrer zwerghaften Gestalt und ihrer Höcker auf Rücken und Brust, als ein wahrer Schutzengel betrachtet.

Man gewöhnte sich allmählig an ihre Sonderbarkeiten und am Meisten trug wohl die sorgenvolle Lage der Mutter und Tochter dazu bei, ihre Aufmerksamkeit von dem räthselhaften

Wesen und Treiben der Trottel abzulenken, da Beider Gedanken nothwendigerweise meist von dem eignen schweren Leide in Anspruch genommen waren.




Es ist eine traurige, aber unumstößliche Wahrheit, daß die Natur des Menschen nur in Kampf und Streben befähigt ist ihre herrlichste Blüthe zu entfalten. Das erreichte Ziel, der sichre Besitz bringt die edelsten Kräfte zum Entschlummern und — Entarten.


Wer gedenkt nicht der Wonneschauer der ersten Jugendliebe, jener Zeit nie wiederkehrender Poesie, wenn sie erst Gegenliebe ahnt im beseelten Auge, im beflügelten Schlag des Herzens? — Ach, das erreichte Glück gibt nicht die Seligkeit des erstrebten! Und wie vielen, kaum Einzelnen der Begabtesten vielleicht, gelang es, die Empfindung in gleicher Höhe und Tiefe festzuhalten, und da nur bei allmähliger Umbildung, in der Zeit des ruhigen Besitzes, den langen Jahren der Ehe?


Wer hat je Memoiren der französischen Aristokratie des achtzehnten Jahrhunderts gelesen, ohne sich schaudernd zu sagen, daß wohl Ströme Bluts von Nöthen waren, um den verderbten, giftwuchernden Boden dieser Gesellschaft zu düngen, und frisches, gesundes Leben darin zu erzeugen? Und doch war es dieselbe im Schlamm der Sittenverderbniß versunkene Aristokratie, welche Tugenden der seltensten Art entfaltete, als die Leiden der Emigration über sie gekommen.


Die Zeit der ächtesten Ausübung des Christenthums in Lehre und That, war die Zeit der grausamsten Christenverfolgung. Mit den Martern wuchs der Muth und die Begeisterung. Unserer Zeit mit ihrem Egoismus und ihrem materiellen Streben fehlt das Verständniß jenes christlichen Heroismus — es müßte denn sein, daß die neueste Zeit es uns wieder brächte. Im Riesenkampfe war die neue Religion zum Riesenbaum erstarkt. Da kamen Jahrhunderte der Ruhe und Herrschaft und mit ihnen Lauheit, Zerwürfnisse, geistliche Satrapen.


Luthers reinigende Lehre fand bald Eingang in die Salzburgischen Thäler; nicht ohne heftige Verfolgung, deren Resultat die bekannte Salzburger-Auswanderung war. Die wenigen Zurückgebliebenen hielten sich still in ihren Thälern und bilden noch heute kleine Gemeinden, unterdrückt und scheel angesehen von ihren katholischen Nachbarn, denen sie doch an Sittlichkeit und Christensinn weit überlegen sind, was diese selbst zugeben. Aber wie die Feindschaften unter Blutsverwandten selbst immer am heftigsten sind, so eifern die katholischen Seelenhirten auf der Kanzel und in Beichtstühlen, ihren Schäflein gegenüber, als wahre Wütheriche gegen ihre christlichen Mitbrüder. die „Ketzer.“ die sie ärger als Juden und Heiden darstellen. Näherer Umgang mit Lutheranern kommt in ihrer Ansicht dem Berühren von Pestkranken gleich, und daher werden an all diesen Orten mit gemischter Bevölkerung die Protestanten. ungeachtet ihres untadeligen Wandels, mehr oder weniger offen mit Eigendünkel und Geringschätzung von den zur „alleinseligmachenden" Kirche Gehörenden behandelt.


Traurig ist es für den unparteiischen Beobachter, die kleinen, den Wohnhäusern ähnlichen Bethäuser der Protestanten zu sehen, in denselben Gegenden, in denen Gott selbst seine herrlichsten Tempel für alle Menschen ohne Unterschied errichtet. Weder Thurm noch Kirchenstyl erlaubt in Oberösterreich den Lutheranern das Gesetz, kann aber nicht verhindern, daß sie in ihrem Herzen selbst den Gott würdigsten Tempel bauen.


Zu Klaras Zeit waren sie und ihre Mutter Walburga die Einzigen ihrer Confession in Hallstadt, und darum zog man sich wohl scheuer vor ihnen zurück, als an andern Orten, an denen man längst gewöhnt war mit Protestanten zu leben. So lange Klaras Vater lebte, ward dessenungeachtet die Fröhlichkeit bei ihnen nie vermißt. Die kleine Familie genügte sich selbst, nur um so inniger aneinanderhängend; aber seit seinem Tode fühlten sie tief ihre Verlassenheit und das unfreundliche Verhalten ihrer Landsleute.


Die arme Wittwe sehnte sich seitdem mehr als in der ersten Zeit ihrer Uebersiedlung zurück in ihr heimathliches. Schönes Gosauthal. Dort schweifte ihr Blick stundenweit auf reichen Kornfeldern und üppigen Wiesen, die leise murmelnd die Gosau*)

*) Name des Thals, sowie des durchfließenden Baches

durchzieht, auf sanftgeschwungnen Hügeln mit dichtem Laubwald, und überall Sonnenschein und warmes, tiefes Grün, auf Berghalde und Thalmatte bis zu dem schattigen Hintergrunde, den Bergriesen des Dachsteins mit ihren Zackenkronen und ihrem Eisgeschmeide.

Freundlich, munter, hochgewachsen und von schönen Zügen ist der Bewohner von Gosau. Um so erschreckender erschienen dem jungen Weibe, nachdem sie mit ihrem Manne in die neue Heimath gezogen, die sie umgebenden unfreundlichen und unschönen Gesichter, denn selbst was nicht zu den Trotteln gehört, sieht in Hallstadt bleich und verkümmert aus.


Dazu kam. daß Walburg lutherisch war. An ihrem Orte waren die Lutheraner nicht so streng von den Katholiken geschieden, wie in der Umgegend; sei es. daß die Mildere Luft des Thals milderer Sitte günstig war, sei es, weil jene dort weniger Grund hatten, sich über die Katholiken zu beklagen.

Nicht zu den geringsten Segnungen des Thals gehörte nämlich ein Seelenhirt ächt christlichen Sinns, der unähnlich seinen Amtsbrüdern, seine Pfarrkinder anleitete, dem ersten und größten Gebote Christi gemäß zu leben, anstatt sie gegen Andersglaubende zu hetzen. Sein Werk trug Früchte, und wenn deren nicht so vielfältige waren, als er wünschte, so kam es daher, weil er seine Pfarrei nicht hermetisch von den sie umgebenden absperren konnte, wo andere Lehren gegeben wurden. Sein Wirken brachte ihm auch wenig Heil bei seinen Obern. Nebst mancher scharfen Rüge mußte er sich gefallen lassen auf seiner ärmlichen Pfarrei zu bleiben, während die fetten Pfründen für seine eifernden Amtsgenossen waren. Dies trübte indeß nicht im Geringsten seinen Muth. Er beklagte nur bei sich, daß ihm die Mittel fehlten, um in dem Maße, als er es wünschte, den Nothleidenden ohne Unterschied des Glaubens hilfreich zu sein, im Uebrigen ging er ruhig seinen Weg, Gott als seine erste Obrigkeit betrachtend.


Ein solcher Mann mußte nothwendig eben so sehr bei Lutheranern als bei Katholiken beliebt sein, und Walburg vermißte in Hallstadt schwer seinen Einfluß. Nur die Liebe zu Mann und Kind machte, daß sie sich nach und nach an ihre neue, unwohnliche, wenn auch malerische Heimath gewöhnte.

Walburgas Mann war Steiger in dem Salzbergwerke zu Hallstadt und unermüdet arbeitete er Tags über und in der Woche, damit die Seinen nicht darben sollten. Saß er dann Sonntags auf der Bank vor seinem Häuschen, neben sich das geliebte Weib, auf seinen Knieen ihr Ebenbild, die plaudernde Klara, wer war glücklicher als er? Aber die Sorgen blieben nicht aus. Walburga fing an zu kränkeln. Die sonst kräftige junge Frau vertrug die eisig feuchte Luft Hallstadts schwer.

Da fand sich ein Ausweg. Für eine benachbarte Alm ward eine Sennerin gesucht, und der Bergmann überredete sein Weib, als solche mit Klara auf die Alm zu ziehen, und das Kind vor dem fürchterlichen Uebel zu bewahren, dessen Opfer sie täglich um sich sahen.


„Weigre dich doch nicht,“ sagte der besorgte Mann zur Kranken, „ich weiß, daß du dich im Grunde des Herzens nach andrer Luft und Sonne und freier Aussicht sehnst. Gesteh', du willst meinethalben nicht. Wenn du nur wüßtest, um wie viel lieber ich täglich Abends eine Stunde weiter steige, um dich und Klara mit frischen Wangen zu treffen. Und der Spätherbst bringt dich ja wieder in unsre Hütte zurück."


Und so geschah es auch. Georg, so hieß der Bergmann, ging ins Gosauthal. wo der Besitzer der Alm, ein reicher Bauer, lebte. Die Sache war bald in Ordnung, und mit dem Frühjahr zog Walburg hinauf mit ihrem Kinde.

Georg hatte Recht gehabt, sie erholte sich zusehends und Klara blühte mit dem Alpenrosen um die Wette. War es ihnen auch leid, den Vater nicht jeden Tag zu sehen, so freuten sie sich nur um so mehr, wenn er kam, und das that er ja, so oft das Wetter es nur zuließ.


Im Spätherbst, als die Heerde zu Thal getrieben wurde, waren der Älmbesitzer und Walburg gleich sehr miteinander zufrieden und erneuerten daher ihren Contrakt für das nächste Jahr, wobei es auch inskünftig so blieb, denn die kleine Bergmannsfamilie hatte das Leben auf der Alm liebgewonnen trotz der Beschwerden, die es mit sich brachte. Mußte Walburg doch nicht mehr die scheelen Gesichter der Hallstädter sehen, die es ihrem Manne nie verzeihen konnten, zuerst eine Lutheranerin bei ihnen eingeführt zu haben, und Klara hatte dort einen Gespielen gefunden, der, wenngleich mehrere Jahre älter als sie, sich mit brüderlicher Neigung an das Mädchen schloß.


Toni, der älteste Sohn des Almenbesitzers, zog alljährlich mit auf die Berge, und half Walburg auf der Weide und bei der Käsebereitung. Traf's ihn die Kühe und Ziegen zu hüten, so bat er sich die Kleine aus, die bald nirgends lieber war; denn Toni spielte mit ihr und brachte ihr die schönsten Alpenblumen, deren Namen er ihr lehrte: Alpenrosen, mit dem eignen, zarten Roth, dem einer frischen jugendlichen Wange gleich; Edelweiß, das er verwegen auf der steilsten Felsenkuppe geholt; duftigen Bergthymian und Eiskraut und federnartige Farrenkräuter.


Als sie größer wurde, erzählte er ihr Geschichten, wie er sie an den Winterabenden im Vaterhause gehört: von den Bergmännlein und Wasserjungfrauen und ihrer unterirdischen Pracht, bis Klara, an seine Erzählung wie ans Evangelium glaubend, ängstlich in die Bergschlucht blickte, ob nicht Eins der gespenstischen Wesen sich sehen lasse, oder gespannt dem Gemurmel der Felsenquelle lauschte, um die geheimnißvolle Klage der Nixe zu vernehmen. Oder sie wiederholten, im Schatten liegend, miteinander, was sie den Winter über gelernt. Noch später, als Toni bereits erwachsen und ein großer kräftiger Bursch mit treuherzigem Sinn und verwegnem Muth geworden war, kannte Keins ein Vergnügen ohne das Andre. War er beim Holzfällen auf einem benachbarten Berge, so forderte er sie mit seinem schallenden Jodeln, diesem den Städtern unnachahmlichen Naturlaut, zur Zwiesprache auf, bis sie ihm von der Weide aus gleicherweise antwortete.


So verging ohne Störung ein Sommer nach dem andern, bis zu Klaras siebzehntem Jahre. Da erwartete sie eines Abends kurz nach ihrer Heimkehr von der Alm den Vater vergebens.

Sie war ihm mehrmals entgegengegangen, bis es finster wurde, und kehrte endlich zur Mutter zurück, damit diese in ihrer Unruhe nicht allein gelassen sei. Da schlagen verworrne Stimmen an ihr Ohr, sie sieht ein Häuflein Menschen mit Lichtern den engen Pfad zu ihr heraufklimmen, die Angst leiht ihr Flügel, sie ruft dem Vater, Niemand antwortet — näher — näher — sie erkennt eine Bahre und stürzt mit dem gellenden Schrei des Entsetzens auf die Leiche ihres Vaters. Bergleute trugen ihn heim. Sie hatten ihn kurz vor ihrem Aufbruch aus dem Bergwerke zerschmettert in der Tiefe eines Schachts gefunden, in den er allem Anschein nach aus Unvorsichtigkeit gestürzt war. Thränen träufelten in den Bart der Männer, als sie nun ihren todten Genossen unter das Dach seiner Hütte gebracht, und neben ihm die ohnmächtige Mutter und den herzzerreißenden Jammer seines Kindes sahen.


III.


Wenige Wochen waren erst vorüber, seit Klaras Vater im Grabe ruhte, und schon drohten neue Trübsale den so schwer vom Schicksal Getroffenen.


Ihr Häuschen war das Eigenthum des reichen Müllers von Hallstadt. Pünktlich hatten sie bis jetzt jedes Jahr am Allerheiligentage ihr Pachtgeld erlegt; aber heuer wußten sie nicht, wie ihnen dies möglich sein sollte, denn die dafür zurückgelegten Ersparnisse hatten theils die Unkosten der Beerdigung, theils das Siechthum der Mutter verschlungen, die seit jenem verhängnißvollen Abende sich nicht wieder erholt hatte. Bei allem Fleiße hatte ihr Bischen Erworbenes eben immer nur für ihren nothdürftigen Unterhalt gereicht, nicht aber zum Aufspeichern für die Tage der Noth. Was sollten sie beginnen, wenn sie zur Pachtzeit entweder das Geld erlegen, oder gewärtig sein mußten, aus ihrem Häuschen gedrängt zu werden?


In Hallstadt hatten sie weder Schutz noch Hilfe zu hoffen, denn wenn auch nicht Aller Herzen verhärtet waren, so betrachtete man sie doch daselbst als Eindringlinge, die mit ihrem ketzerischen Glauben, dessen Umsichgreifen man sich widersetzen müsse, noch zuletzt Unglück über ihren Wohnort bringen konnten. Der jähe Tod des Bergmanns ward als Strafe Gottes angesehen für die schwere Sünde, eine Lutheranerin geheirathet und mehr noch, sein Kind lutherisch erzogen zu haben. Die Krankheit der armen Wittwe, ihre Armuth war ebenso Strafe, und die liebliche Schönheit der Waise ein Werk des Teufels, um rechtgläubige Seelen zum Abfall zu verleiten. So dachten diese Leute, nicht etwa weil sie schlimmer oder beschränkter waren, als andre Menschen, sondern weil ihr Geist stets in Nacht und Unmündigkeit gehalten worden war. Was hatten die Armen an einem solchen Orte zu hoffen, und derjenige, anden sie sich zunächst zu wenden hatten, war aus einem lästigen Freund ein erbitterter Feind geworden.


Noch zu Lebzeiten Georgs war der Müller im letzten Winter unter verschiedenen Vorwänden öfter ins Haus gekommen.

Sein Trachten, Klara allein zu treffen, seine Schmeicheleien, ließen die Eltern nichts Gutes ahnen, und als vollends Klara, der er zuwider war, sich ein Mal über sein zudringliches Wesen beklagte, sagte ihm der Vater offen: „Herr, bringt mir meine Tochter nicht ins Gerede. Wir sind arm, aber nicht schlecht. Gebt Euch daher keine Mühe und bleibt künftig daheim."


Der Müller brummte in den Bart und ließ sich acht Tage lang nicht sehen. Nach Verlauf dieser Zeit erschien er wieder, trat dies Mal dreist vor Vater und Mutter, und bot dem schönen Mädchen, das er verzweifelte auf andre Weise zu gewinnen, seine Hand und Herz, sammt Hab und Gut; freilich im Ton eines Menschen, der damit etwas Großes zu thun meint, und gar nicht an die Möglichkeit eines Nein denkt. Er irrte sich. Klara lachte und sagte, sie sei noch zu jung zum Heirathen und dabei blieb es; denn die Eltern wollten ihr Kind nicht zwingen und der reiche Müller war ihnen als hart und geizig bekannt. Und sie selbst, Klara? Fragt die frische Alpenrose, warum sie ihren Platz nicht neben der grauen, stacheligen Distel wählt? —


Von dieser Zeit an sahen sie den Müller nicht mehr, aber bei verschiedenen Gelegenheiten hatten sie bemerkt, daß nun ein Feind in ihrer Nähe war, der nur auf die Gelegenheit lauerte, sich für die vermeintliche Unbill zu rächen.


Während der Krankheit der Mutter, nach des Vaters Tode, hatte Klara, nach langem Kampfe mit sich selbst, den Entschluß gefaßt, zu ihrem Pachtherrn zu gehen und ihn um Nachsicht zu bitten. Ihrer Mutter sagte sie kein Wort davon, um sie nicht zu beunruhigen. Als der Müller ihrer ansichtig wurde, frohlockte er innerlich, während er mürrisch frug, was ihr Begehr sei.


„In wenig Tagen ist Zinszeit und wir können Euch nicht bezahlen. Ich bitte Euch, habt dies Mal Nachsicht mit uns," antwortete sie. „Ihr wißt, welch schweres Leid uns getroffen, dazu liegt die Mutter jetzt krank. Des Vaters Zurückgelegtes ist in dieser Drangsal darauf gegangen, und obgleich ich bis tief in die Nacht spinne, kann ich damit doch kaum verdienen, was die kranke Mutter nothdürftig braucht."

„Einfältige Dirne," schnaubte sie der Müller an, „du könntest es besser haben. Besinne dich anders, so kannst du noch reich werden, und brauchst dich nicht mehr zu plagen."

Dabei verschlang er sie mit seinen lüsternen Blicken.

„Herr," erwiderte sie bebend aber bestimmt, „ich bitte Euch, laßt ab, quält mich nicht weiter."

„Sprödes Ding, bist du nicht in meiner Gewalt?" schrie er plötzlich, seiner rohen Leidenschaft nachgebend und stürzte auf sie los.

Dem entsetzten Mädchen gelang es eben noch, die Thüre zu erreichen. Mit der Geschwindigkeit eines Rehs floh sie davon, und vernahm noch hinter ihr sein Fluchen und Drohen, darunter deutlich die Worte: „Bis Allerheiligen den Zins, oder bis Neujahr aus dem Haus!"


Gern hätte sie ihrer Mutter den ganzen Vorgang verschwiegen, und trat daher nicht eher bei ihr ein, bis die Kranke rief. So gut als möglich suchte sie dann ihre heftige Aufregung zu verbergen, aber das Herz der Mutter errieth sie dennoch. Mit ihrer besorgten Frage riß Walburg plötzlich den Damm von dem gewaltsam stürmenden Schmerze der Tochter hinweg, und wider ihren Willen nicht mehr Herr ihrer selbst, stürzte diese an den Hals der Mutter und beichtete Alles. Die Kranke wurde noch bleicher, als sie gewöhnlich war, und legte sich wie erschöpft in ihr Kissen zurück, während sie leise sprach: „Herr, Dein Wille geschehe."


„So ist denn Niemand, der uns hilft. Niemand, der Theil nimmt an unserm Leid,?" jammerte das trostlose Mädchen.

„Niemand?" wiederholte halb fragend, halb vorwurfsvoll eine Stimme, die Klara's Herz freudig erbeben machte, und hereintrat — Toni, ihr Freund, ihr Bruder — Toni, den sie um diese Zeit nicht erwartete, weil der früh eingetretene Winter die Gebirgspfade gefährlich, wo nicht ungangbar machte.

Von einer längeren Abwesenheit zurück, hatte er erst jetzt ihr Unglück erfahren, und war sogleich aus der Gosau herbeigeeilt, die Gefahr nicht achtend, um die beiden Verlassnen zu trösten, so viel ihm dies möglich wäre. „Niemand?" wiederholte er nochmals, „Klara, du hast den Toni vergessen." Die Mutter faßte sich zuerst, und machte ihn in Kürze mit ihren Erlebnissen und dem letzten Vorfälle bekannt. Toni fluchte über den Müller, bis ihn die Kranke mit ihren frommen Worten beschwichtigte.


„Ihr habt wohl Recht, Mutter," sagte er, ihre Hand schüttelnd, „es ist nicht christlich also zu reden, aber Gott wird mir's verzeihen, denn ich kann nicht anders, wenn ich an solch einen Bösewicht denke. Hört mich jetzt," Hub er nach einer kleinen Pause wieder an, anfangs verlegen, dann im Verlauf der Rede sich immer mehr ermannend, „ich bin heute eigentlich gekommen, um Bessres mit Euch zu reden. Ihr habt wohl längst bemerkt, daß Klara mir ins Herz gewachsen. Nicht erst seit heute habe ich beschlossen, daß sie oder nie eine Andre mein Weib werden soll; aber ich wollte Euch dies erst sagen, wann ich mir meine eigene Heimath hergerichtet. Euer Unglück bringt mich vor der Zeit zum Reden. Sagt ja, und ihr gebt mir damit das Recht mich Eurer anzunehmen. Und du Klara sprich, was sagst du dazu?"


Klara, sprachlos von den widerstreitendsten Gefühlen, reichte ihm die Hand, und ihr Blick, aus dem die reinste Liebe strahlte, sagte mehr, als sie in Worten hätte ausdrücken können. Und Toni jauchzte, schwang seinen Hut, und zog das erröthende Mädchen an sein Herz.


„Kinder, ihr träumt," mahnte die Mutter. „Du bist mir zwar werth, Toni, und die Liebe ist mit Euch Beiden groß gewachsen. Damit ist aber noch wenig gethan. Die Hauptsache ist, daß dein Vater seine Zustimmung gebe, und wie hoffst du sie zu erlangen? Ihr seid so reich und wir so arm, und dann — sind wir keine Katholiken."



„O, Mutter, trüb' mir doch nicht den schönsten Augenblick meines Lebens mit deinen Bedenklichkeiten. Lange habe ich mir nicht getraut, von meiner Liebe zu reden, weil mir bange war, Klara möchte mich vielleicht doch nicht so lieb haben wie ich sie. Jetzt da ich mir Gewißheit geholt und hoch aufjauchze vor Lust, kommst du mit deinen kalten Zweifeln dazwischen. Klara wird mein werden, denn ich will es fest. Aus meinem Herzen nehm' ich diesen Glauben, und du weißt ja, der Glaube kann Berge versetzen."

„Es werden sich euch auch Berge entgegenstellen," sprach seufzend die Kranke in sich hinein.


Bei Klara gelang es Toni bald alle Furcht vor einer trüben Zukunft zu verscheuchen. Welche Überredungsgabe ließe sich aber auch mit der eines glücklich Liebenden vergleichen? die unwiderlegbarsten Beweise liegen in Blick, Ton, Geberde, in so viel Unaussprechlichem, das eben nur auf Liebende magnetisch wirkt. Bald war Klara so festen Glaubens als er, und sah durch den Schleier ihrer Freudenthränen eine rosige Zukunft leuchten.


Toni betrachtete sie mit Entzücken. Was war es doch daß sie ihm eine Andere und doch dieselbe erschien? War sie schöner geworden in dieser kurzen Zeit? War es ein Zug tiefen Ernstes und innrer Wehmuth in den sonst so muntern und neckischen Zügen? Was ihm oft die Worte der Liebe, die ihm längst auf der Lippe schwebten, wieder zurückgedrüngt, war ihr kindliches, oft kindisches Wesen, dem noch nicht der Schlüssel gegeben schien zum Verständniß seiner Wonnen und Qualen. Die heiße Lohe des Blitzstrahles, der sie darniederschlug, hatte die Seele des Kindes plötzlich gereift, und so wie sie ihm jetzt erschien, als ernste Jungfrau, war sie in seinen Augen tausend Mal schöner.


Es ward fest beschlossen, daß Toni gleich nach seiner Rückkehr mit seinem Vater reden, seine Liebe gestehen, und um seine Zustimmung bitten solle. Ob der Vater ihnen dann ein Theil seines großen Anwesens überlassen oder verpachten wolle, oder ob er ihre Heirath noch weiter hinausschiebe, gleichviel! wenn er nur ihrem Vorhaben geneigt sei. Den Verlassnen mußte dann zuallererst Hilfe zu kommen, und sie sollten wo möglich bald nach der Gosau übersiedeln. So. dachte Toni, werde Alles gut gehen, da er wußte, daß ihn sein Vater liebte. Klara dachte wie er.

Wie hätten ihre Gedanken auch verschieden von den seinen sein können? Und die kranke Mutter — betete für ihre Kinder.


Spät am Abend trennten sie sich. Toni suchte sich ein Bündel Heu im Schupfen und Klara stieg in ihr Kämmerchen; aber Keines schlief — sie waren zu glücklich. Toni schied am andern Morgen mit der festen Zusage, ihnen den nächsten Tag Antwort zu bringen.


Klaras Zuversicht blieb nicht dieselbe nach Tonis Entfernung, und als der Tag anbrach, an dem er versprochen wiederzukehren, stieg ihre Unruhe von Stunde zu Stunde.

„Ich denke, er kommt nicht", sagte die Mutter öfter unter Tags, indem sie zu den kleinen Fenstern blickte, an die ein dichter Regen mit Schnee vermischt schlug.

„Er wird kommen, gewiß! Mutter, Toni hält sein Wort. Aber was wird er bringen? O, Gott! mir ahnt nichts Gutes!" Dann verbarg sie ihr Gesicht und schluchzte heftig, daß die Mutter sie kaum zu trösten vermochte. Es war Mittag, es ward Abend, und Toni kam nicht. Es ward Nacht, und sie waren noch allein. Die Kranke. von vielem Zureden ermüdet, wollte versuchen zu schlafen, und schickte endlich das Mädchen in ihre Kammer.


Klara setzte sich auf ihr Lager und hing ihren finsteren Gedanken nach. Ach. wie so ganz anders erschien ihr jetzt das Leben. als vor ein paar Tagen in Tonis Gegenwart. Dann sprang sie wieder auf, unfähig ruhig zu bleiben, und lauschte den klagenden Tönen des Windes, dem brausenden Wellenschlag des Sees.

Hundert Mal rannte sie so hin und her. bald verzweifelnd sich auf ihr Lager werfend, bald angestrengt horchend, ob nicht ein Ton menschliche Nähe verrathe. Endlich forderte die Natur ihr Recht. Seit drei Tagen und Nächten hatte sie kein Auge geschlossen. ihre übermäßig gespannten Lebenskräfte erlagen und sie sank in eine Art Betäubung, die kaum Schlummer zu nennen war.


Es war nach Mitternacht. Horch! da fiel ein Stein gegen ihren Laden, sie fuhr in die Höhe. Da rief eine Stimme, die all ihre Nerven zittern machte!

„Klara! schläfst du?"

Schnell riß sie das Fenster auf, und rief Toni zu. sie werde gleich die Hausthüre öffnen. Er aber hatte sich schon auf den Holzstoß vor der Hütte geschwungen, und kletterte nun zu Klaras Entsetzen. die alle Augenblicke fürchtete, ihn Hals und Bein brechen zu sehen, auf ihr Fensterchen zu.


„Bleib'. bleib'flüsterte er, den Arm um ihren Hals schlingend, während er mit dem andern an dem Laden klammerte und mit den Füßen auf einem kleinen Vorspning der schadhaften Holzwand ruhte. „Es ist Alles. Alles aus. Der Vater hat mich verflucht und dem Knechte gerufen, mich aus dem Hause zu stoßen. In meiner Wuth zog ich das Messer, um diesen von mir fern zu halten und traf — O Gott! warum hast du mich so verlassen? — den Vater!" —

„Gott im Himmel!" unterbrach ihn das Mädchen.

„Hör' mich an, Klara. Ich sah ihn stürzen, das Messer steckte in seiner Seite. Ich konnte den Anblick nicht ertragen und stürzte fort, wie vom bösen Feind getrieben. Wie ich hierher gekommen, ich weiß es nicht, denn die Waldbäche sind ausgetreten und längst ist es Nacht. Doch trieb mich's weiter, ich mußte zu dir. Da leg' deine Hand her auf meine Stirn, da brennt's wie Feuer. So — dank' dir. das kühlt. Hier auch, hier nagt ein Wurm, der mich verzehrt und wieder fort treibt von dir."

„Wohin?" jammerte das Mädchen? „O Toni, bleib', du triefst vor Nässe und deine Hand ist wie Eis. In der Mutter Stube ist's warm."

„Geh' nicht hinein." sagte er tonlos und kopfschüttelnd, „will die Mutter so nicht sehen. Will nur etwas von dir. Daß es mich geleite auf meinen Wegen. Gib mir das Tuch hier am Halse, und nun behüt'dich Gott! mein Lieb!" stöhnte er, preßte einen Kuß auf ihre kalten Lippen, und war mit einem Sprung zur Erde. Klara schrie laut, er aber raffte sich auf, Schwenkte ihr Tuch, und rief ihr nochmals zu:

„Behüt dich Gott! Mein Lieb! behüt' dich Gott!" und fort unaufhaltsam stürzte er.

„Toni. Toni!" schrie das entsetzte Mädchen, aber er erstieg schon die Höhe und mit dem Pfeifen des Sturmes vermählte sich in schauerlicher Lustigkeit sein Sang, der nach und nach sich in der Ferne verlor:


Ich lieb' dich im Leben

Ich lieb dich im Tod.

Brauchst nicht zu beben

Du Röslein roth!

Es ruht sich so friedlich

Im kühlen Schrein.

Es schläfert der Tod ja

Das Herze ein. "


„Herr, du mein Gott!" rief Klara, „erbarme dich seiner!" und stürzte auf die Knie.

Den andern Tag hieß es im Orte, die Bergmännlein seien heut Nacht laut geworden.

„Ihr werdet sehen, es gibt ein Unglück". sagte eine Alte, „es bedeutet nichts Gutes, wenn man sie hört." —

„Vielleicht stirbt die kranke Walburg," sagte eine andere, „denn ich hörte ganz deutlich den Klageschrei von ihrer Hütte her."


In der Hütte aber herrschten in der That schlimme Geister. Die kranke Walburg mußte alle Kräfte aufbieten, um Klara vor Verzweiflung zu bewahren. Es gelang ihr nur schwer, denn wenn in der Jugend jeder Schmerz rascher heilt, so wühlt er dafür auch heftiger und zerstörender als später. Oft brachte sie Stunden hin in fieberhafter Angst. Sie rang mit sich um zu beten und konnte nicht bei der Qual, die sie verzehrte. Dann ging sie zur Mutter und bat sie es zu thun. bis wieder Ruhe in ihre Seele kam. Oder sie stieg hinab zum Kirchhof, wo ihr Vater lag und lehnte ihr geängstigt Herz an die Erde, die das seine deckte. •


Toni kam nicht wieder.

„Wäre er unter den Lebenden." sagte sie oft zur Mutter, „er ließe uns nicht so lange harren, und würde gewiß trachten, uns Hilfe zu verschaffen, sei's woher immer."

Allmählig gewöhnte sie sich, ihn als todt zu betrachten.


Sie kämpfte mit ihrem Schmerz um ihrer Mutter willen, und gewann dadurch einige äußere Ruhe. Aber die Blüthe ihrer Jugend schien abgestreist. Das Roth ihrer Wangen erblich und ihre hohe schlanke Gestalt war gebeugt. So kam der Weihnachtsabend heran. Es waren nun beinahe zwei Monate vergangen, seit Toni spurlos verschwunden war.


Im Vaterhause in der Gosau war unterdeß die Reue eingekehrt. Tonis Vater war ein roher, beschränkter, jähzorniger, aber kein durchaus böser Mensch. Als Sohn und Enkel reicher Leute wußte er nichts von Armuth und hatte von jeher sich eine reiche Braut für seinen Sohn gedacht. Widerspruch ertrug er nie. Nachdem er daher seines Sohns Bitte um Hilfe für die armen Leute erbost abgeschlagen, und ihm gerathen hatte, sich die lutherische Betteldirne ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen, so hatte ihn die darauf folgende feste Erklärung desselben, daß er nie eine Andere als sie zum Weibe nehmen werde, wüthend gemacht, und ihn zu der Behandlung, die wir bereits kennen, hingerissen. Das gegen den Knecht gerichtete Messer, das ihn getroffen, hatte ihn Gottlob! nur leicht verletzt, da es glücklicher Weise größtentheils zwischen die Kleidung geglitten war. Er stürzte mehr in Folge des Schreckens, als der Wunde, und diese war in wenig Tagen geheilt.


Anfänglich als sein Sohn ausblieb, dachte er:

„Der Wildfang wird nicht weit sein, und kehrt schon wieder heim, wenn er ausgetrotzt hat."

Als aber Woche um Woche verging, ward ihm bange und er ließ überall in der Umgegend Nachfragen, sogar insgeheim in Hallstadt, ob man ihn nicht dort gesehen.


Alles vergeblich! Jeder zugängliche Gebirgsweg wurde durchsucht, ob nicht eine Spur des Vermißten sich vorfinde. Aber Toni war und blieb verschollen. Gern hätte der reiche Mann nun all seine Habe darum gegeben, wenn er den Sohn damit zur Stelle schaffen, und den Mühlstein, der sein Gewissen belastete, hätte hinwegwälzen können.


„Was soll mir jetzt all mein Geld und Gut," sagte er sich, „wenn ich es Fremden hinterlaffen muß?

O du wunderthätiges Gnadenbild von Mariazell! ich gelobe dir eine große Tafel und zwei Wachskerzen so schwer als mein Sohn, wenn ich ihn lebendig wiedersehe. Ja, ich gelobe, ihn vor deinem Altar, dir zu Ehr' und Preis, einsegnen zu laßen mit seiner Klara, obgleich sie arm und lutherisch ist. Unser Herr Pfarrer sagt ja, wir seien Alle Brüder."


In Wahrheit hatte der menschenfreundliche Pfarrer, dem Klara als brav und sittsam bekannt war, nicht wenig durch seine Vorstellungen und strafenden Worte den Alten zu letzterem Entschlusse gebracht, und die besten Verbündeten des Pfarrers waren Angst und Gewissensbisse. Aber auch das Gelübde schien erfolglos bleiben zu wollen, denn Weihnachten war vor der Thür, und noch hatte der reuige Alte keine Kunde von seinem Sohne.




Die Weihnacht.

Versunken in ihre Betrübniß saß Klara am heiligen Abend am Fenster ihres Kämmerchens, und blickte sinnend auf die weiße Schneehülle, die Berg und Tiefe überzog. Es schien ihr als sehe sie das Leichentuch, das all ihre Hoffnungen, ihre zu Grabe getragenen, verdeckte. Auch an ihr innres Auge reihte sich Bild an Bild. Wie fröhlich ward sonst das Weihnachtsfest begangen, als der Vater noch lebte! Alles von oben bis unten mußte glänzend und blank gescheuert sein, und das beste Kleid ward hervorgeholt. Ein kleines, fröhliches Mahl, eins der wenigen im Jahre, an denen sie sich ihrer Meinung nach Leckerbissen erlaubten, hielt die kleine Familie, die sich höchstens durch einen

Genossen des Vaters vergrößert sah, unter munterm Geplauder bis tief in die Nacht hinein wach.

Riefen dann die Glocken die Männer zur Christmette, von der sie als „Ketzerinnen" ausgeschlossen waren, so beteten Mutter und Tochter nicht weniger inbrünstig in ihrer niedem Stube, als wenn ein Dom sich über ihnen gewölbt hätte: dann legte sich Klara froh und selig, daß das Christkind ihr den lieben Vater jetzt zwei Tage lang lasse, an denen er mit ihr spielte, und später sie lehrte und ihr erzählte.

Und dies Mal? Da lag der gute Vater tief in der Erde, die Mutter krank und nach acht Tagen waren sie ohne Obdach, denn was einigermaßen entbehrlich und Geldeswerth schien, war bereits verkauft. Auch der Gespiele ihrer Kindheit, ihr Freund, ihr Geliebter, war todt, und es war ihr nicht einmal vergönnt, an seinem Grabe zu beten. War er verunglückt? hatte er sich selbst ums Leben gebracht in jener Nacht wahnsinniger Qual? Sie wußte es nicht, sie fürchtete sich darüber zu sinnen. Unwillkührlich summte sic die Schlußworte des alten Volkslieds, das sie Toni in jener fürchterlichen Nacht hatte singen hören:

„Und es schläfert der Tod ja das Herze ein."

Sie war sich nicht bewußt, wie lange sie so dasaß, bis die Glocken des Kirchleins, die die Andächtigen zur Mette riefen, feierlich zu ihr herauftönten. Ihr war's, als vernehme sie des Vaters Stimme, der sie ermahne auszuharren, zu glauben, zu vertrauen, und ein Strahl göttlichen Lichts fiel in ihre umnachtete Seele.

„Mein Gott, was Du thust, ist wohlgethan," sagte sie, „laß mich Toni bei Dir im Himmel wieder finden!"


„Erst hier auf Erden," sagte Jemand neben ihr freundlich aber so unerwartet, da sie sich allein wähnte, daß sie zusammenfuhr. Zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen war es die sonst

so stumme Trottel, die, neben ihr stehend, diese Worte ausgesprochen.

„Seit wann kannst du reden?" sagte Klara.

„Frag' nicht, komm mit mir, du sollst Toni Wiedersehen."

„Toni? Wär's möglich? Lebt er? wo? sag' schnell."

„Dort, wohin ich dich führe. Kleide dich an, nimm deine Schneeschuhe und folge mir!"


So betroffen und verwirrt Klara auch war, so lag doch etwas so ruhig Entschiedenes in dem Tone der Trottel, das sie dahin brachte, ihr instinktmäßig Folge zu leisten. Sie kleidete sich an, und gedachte dabei, wie der Vater ihr oft von den Bergmännlein erzählt, wie sie den Guten hilfreich, den Bösen zum Schaden seien, und wie sie sich in verschiedenen Gestalten zeigten.


„Rasch, rasch," mahnte die Trottel,' „die Zeit ist da, wenn sie vorüber, kann ich nichts mehr für dich thun."

„Wenn Toni lebt, warum kommt er nicht selbst?"

„Weil er deiner bedarf, um erlöst zu werden."

Da langte Klara ein Kruzifix von der Wand, hielt es der Trottel hin und sprach:

„Schwöre mir erst auf dies Kreuz, daß du mich zu Toni führst, und nichts Böses mit mir vorhast, dann geh' ich mit dir."

Die Trottel erwiderte, die Hand darnach ausstreckend: „Ich schwöre im Namen Gottes! Aber nun eile, oder es ist zu spät. Nimm Licht mit, nicht für mich, wohl aber für dich."


Leise verließen sie das Haus und stiegen, so rasch der festgefrorne Boden es erlaubte, seitwärts ins Thal. Mitten im Orte stießen sie auf den Müller, der zur Kirche ging. Er that, als erkenne er sie nicht. Statt aber seiner ersten Absicht nach zur Mette zu gehen, folgte er ihnen unbemerkt in einiger Entfernung, auf die Gelegenheit lauernd. Klara in seine Gewalt zu bekommen.

„Zieh' nun deine Schneeschuhe an," sagte die Trottel, als sie außerhalb Hallstadts waren. Klara gehorchte und zu ihrem Staunen schlugen sie nun den Weg ein zum Strupp*).

*) Strupp heißt in dortiger Gegend jeder Wasserfall,

z. B.:Waldbachstrupp. Bei dem größten derselben aber zu Hallstadt gilt der Gattungsname an der Stelle des Eigennamen. Man nennt ihn blos den Strupp.


Die zum Strupp führende Schlucht hat am hellen Tage etwas schauerlich Düstres. Um wie viel mehr mußte dies um solche Stunde der Fall sein! Es war zwar eine schöne, stern- und schneehelle Mondnacht; allein das Licht des Monds vermochte eben nur den Pfad, den sie gingen, zu erhellen. Die kolossalen, senkrechten Felswände zu beiden Seiten blieben in tiefem Dunkel, und schienen sich immer mehr und mehr zu nähern, als wollten sie die in ihr Reich Eindringenden erdrücken.

Ängstlich ergriff Klara den Arm der Trottel.

„Fürchtest du dich, willst du umkehren?" sagte diese.

„Nein," erwiderte Klara ermuthigt, „aber du gehst so schnell und ich bin müde."


In der That glitt die Trottel mit unbegreiflicher Schnelligkeit dahin, während Klara nur mit Anstrengung folgte, bei jedem Schritte fürchtend, selbst mit den Schneeschuhen einzusinken, denn der Schnee füllte oft haushohe Klüfte, an die der schmale Pfad, der nicht mehr zu erkennen war. streifte.

„Hab' nur noch eine kleine Weile Geduld," tröstete sie die Trottel, nachdem sie die Tiefe der Schlucht verlassen und emporgestiegen waren zwischen finstern Tannen und laublosen Buchen, die ihre großen Äste gleich Gespensterarmen nach ihnen streckten.

Noch wenige Schritte und das Dickicht endete, und sie befanden sich dem Strupp gegenüber. Aber lautlose Stille umgab sie auch hier, wie auf dem bisherigen Wege, und ihnen gegenüber in Bergesmitte gähnte sie vom Mond beschienen die leere Höhle finster an, aus der gewöhnlich der Strupp wie aus der Mündung einer Kanone hervorschießt und sich dann mit

rasender Wuth in die Tiefe stürzt*).

*) In ver That verschwindet der Strupp von Zeit zu Zeit, man weiß nicht wohin.

Ebenso wenig erklärt ist sein Wiedererscheinen.

„Schreite jetzt vorsichtig und halte dich an der Felswand," ermahnte die Trottel, und sie schritten auf schmalem Pfade in schwindelnder Höhe auf die andere Seite der Schlucht, deren senkrechte Wände hier geschlossen sind, und noch thurmhoch über den Strupp hinausragen.


Jetzt standen sie vor der Höhle, die sie mit einem naßkalten Luftzuge anwehte, wie mit Grabesodem.

Klara schauderte, als die Trottel sagte:

„Tritt ein, wir sind am Ziele."

„Wo denkst du hin?" rief sie.

„Jeden Augenblick kann das Wasser wiederkommen, dann sind wir Beide verloren."

„Sei ruhig, der Strupp kehrt nicht zurück, so lange wir hier sind."

„Toni, ich wage es für dich," sagte halbleise das Mädchen und folgte der voranschreitenden Trottel. Sie befanden sich nun in einem niedrigen Tropfsteingewölbe, von dem aus mehrere Gänge nach verschiedenen Richtungen führten. Einer derselben, eng und niedrig, führte in leiser Senkung abwärts. Diesen wählte die Trottel. Wasser sickerte von den Wänden, von den Tropfsteinen der feuchten Decke, und Schlamm bedeckte den Boden. Nach und nach wurde der Weg breiter und höher, die Luft trockner.

Auf einmal kam es Klara vor, als höre sie ein mächtiges Rauschen in der Ferne.

„Der Strupp kehrt wohl zurück, aber wir sind in andrer Richtung und der Wege zu deiner Hütte gibt es viele," beruhigte sie die Trottel.

Da erscholl der Schrei eines Menschen, wie in Todesnoth ausgestoßen, fern aber deutlich. Klara lehnte sich an die Wand und bebte an allen Gliedern.

„Das ist Gottes Gericht," sagte ernst die Trottel.

Wieder schritten sie durch ein Labyrinth von Gewölben und Gängen, oft an phantastischen Tropfsteingebilden vorüber, oft am Ufer kleiner unterirdischer Seen, oft über Quellen, deren Wasser, von der kleinen Blendlaterne beleuchtet, kristallhell schien, und erst vielleicht Stunden von da zu Tage trat.


Da däuchte es Klara plötzlich, sie höre Musik in der Ferne.

Ja, sie schritten darauf zu, und näher und näher wogten die Wellen eines himmlischen Gesangs, bald das Herz in leisen Klagen mit sich führend bald alles Weh vergessend in unendlichem, seligem Jubel.

Klara mußte weinen, sie wußte nicht ob vor Leid oder Lust.

„Was du auch sehen magst, schweig," so ermahnte die Trottel.



Ihre Vorsorge war nicht überflüssig, denn beinahe hätte Klara einen Schrei der Überraschung ausgestoßen, als beim Biegen um die Ecke eines Gangs, sie sich plötzlich in einem Meere von Licht sah, an dessen Glanz ihr Auge sich erst gewöhnen mußte, bis es im Stande war, die Gegenstände zu unterscheiden.


Sie befand sich in einem Raume größer und höher, als irgend ein Dom der Erde. Ein Wald von hohen, gothischen Säulen stützte die Gewölbe, deren Decke für Klaras Augen unerreichbar schien, denn das Licht verlor sich dort oben in Dämmerung. Wände und Säulenschäfte waren so schimmernd und lichtdurchfluthet, als wären sie aus einem einzigen Demantstein. Vor Allem aber war es die Stelle des Chors, die Klara wie mit Sonnenlicht blendete. Dort flammte ein riesiger Karfunkel in Kreuzesform über einem einfachen Altar aus Kristal, und am Fuße desselben lagen in weite, schimmernde Gewänder gehüllt, hohe ehrfurchtgebietende Gestalten, nur unterschieden durch die Farbe des glänzenden Reifs, der die schleierartigen Mäntel auf ihrem Haupte fest hielt.


Zunächst an diese reihten sich schlanke, nebelhafte Gestalten, umflossen von zarten, bläulich wallenden Gewändern. Kränze von Schilf und Korallen schmückten die Stirne der Männer, Perlen und glänzende Muscheln die langen Haare der Frauen. Nach diesen, bis in Klaras Nähe reichend, kam ein Gewimmel von wunderlichen, trottelähnlichen Gestalten, grau in grau, klein und groß, alt und jung. Alle beteten mit Inbrunst, unverwandt den Blick nach dem strahlenden Kreuze gerichtet, während über ihnen, von unsichtbaren Chören ausgeführt, die himmlischen Melodien bald rauschten, bald erstorben, um von Neuem himmelan zu streben, die ganze Seele mit sich führend.


Klara wähnte sich im Wohnorte der Seligen. Da schwiegen die Töne und sie erwachte aus ihrer Bezauberung. Ängstlich sah sie sich nach ihrer Begleiterin um. Sie war dicht neben ihr. Aber im Umsehen war Klaras Auge auf eine Nische gefallen, und dort — war's Täuschung, war's Wirklichkeit? — Gott, sie traute ihren Augen nicht und stürzte, Alles vergessend, mit lautem Schrei darauf los.

Aber im Augenblicke, in dem sie den Schrei ausstieß, verschwanden Gestalten und Licht, und lautlose Finsterniß umgab sie. Das Licht in ihrer Blendlaterne war längst erloschen.

„ThörichtesKind," schalt die Trottel, „hättest du nicht vergessen, was ich dir sagte, unermeßliche Schätze wären dein gewesen."

„Ich verlange keine Schätze, gib mir nur Toni wieder, ich habe ihn gesehen," rief Klara außer sich.

„Er wäre dein geworden mit den Schätzen, wie nun ohne sie," sagte die Trottel, murmelte dann ein Paar Worte, und sieh da! plötzlich war ein Grubenlicht in ihren Händen, mit dem sie Tonis Gesicht beleuchtete, der vor ihnen lag und ruhig zu schlafen schien. An seiner Brust steckte noch Klaras Tuch.

„Toni!" rief das Mädchen in Lauten, in denen ihre ganze Seele lag, und der Angeredete schlug die Augen auf. Sein erster Blick fiel aus Klara, deren Gesicht mit Bangigkeit und Entzücken auf ihn gerichtet war. Unwillkürlich streckte er die Arme aus. Da durchzuckte ihn ein unbestimmtes Gefühl von Leid.

„Mein Vater!" rief er.

„Er lebt," erwiederte freudig Klara, „er ist geheilt, er hat dir verziehen."

„Gott sei Dank! ich bin kein Mörder," sagte tiefaufathmend Toni, „aber wie kann das sein seit gestern?"

„Laßt jetzt das Reden," unterbrach sie die Trottel, „Ihr könnt Euch satt plaudern, während wir gehen. Die mir gegönnte Zeit ist bald zu Ende, ich muß sie benützen, Euch heimzugeleiten. Kommt! Eilt Euch!"


Toni sprang auf von seinem Lager, und wandette nun wohl eine Stunde lang fort durch die Gänge, hinter der Trottel, an seinem Arm sein treues Lieb. Wie viel hatten sie sich nicht zu erzählen! Sie vergaßen Zeit, Raum, Kummer und die Unterirdischen. In dieser Stunde, die ihnen eine Sekunde schien, waren sie für einander auf der Welt. Wie leicht vergißt die Jugend und die Liebe! Selbst ihre wundervollen Erlebnisse beschäftigten sie weniger, als das Glück, einander wiederzusehen. Erst in späterer Zeit klärten sie sich gegenseitig Alles auf, und Toni erzählte dann, daß er in jener unseligen Nacht in den Wald gestürzt sei, selbst nicht wissend, was er thue. So sei er an einen Abhang gerathen, ausgeglitten und er vermöge nicht zu sagen ob hinuntergestürzt oder hinuntergeglitten, denn seine Sinne hatten ihn verlassen. Jedenfalls hatten ihn schützende Mächte umgeben.


Jetzt stand die Trottel still.

„Kinder, ich muß Euch jetzt verlassen," sagte sie, „Ihr werdet gleich im Freien sein. Hab' Dank, Klara, daß du mich so gastfreundlich aufgenommen, mich gekleidet und gepflegt hast, ohne mich zu kennen. Nur alle hundert Jahre einmal ist es uns erlaubt, mit der Oberwelt zu verkehren, und jene unter Euch, die reines Herzens sind, in unsre Welt einzuführen. Durch deine Unvorsichtigkeit hast du zwar heute Schätze verscherzt, wie sie Euer Kaiser nicht in seiner Hofburg hat, und es bleibt mir nichts als diese Perlenschnur für Dich. Aber bewahre sie wohl! So lange du sie besitzest, wird der Segen nicht aus deinem Hause weichen, und eben so bei deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln. Hab' nochmals Dank! und nun Gott sei mit Euch!"

Mit diesen Worten schob sie mit leichter Hand ein Felsstück hinweg, und die beiden Liebenden drängten sich freudig hinaus. Sie befanden sich dicht vor ihrer Hütte und die Morgendämmerung zeichnete eben in scharfen Umrissen die Gipfel der gegenüberliegenden Felsen.

Doch als sie sich umsahen, war die Trottel verschwunden und keine Spur von einer Felsenöffnung mehr zu sehen.

Im nächsten Frühjahre flammten zwei mächtige Wachskerzen am Gnadenaltar zu Mariazell, und auf den Stufen desselben kniete ein eben getrautes Paar, die Braut im üblichen schwarzseidenen Gewände mit reichem Geschmeide, um den Hals eine einfache, aber werthvolle Perlenschnur, mit einem kleinen strahlenden Rubinkreuze. Schöner aber als Kleid und Schmuck erschien ihr holdseliges, blühendes Gesicht mit der Brautkrone in den blonden Haaren, die ein eindringender Sonnenstrahl eben mit Goldglanz umwob.

Kaum weniger glücklich als die Braut war die Mutter derselben, die mit brünstigen Gebeten des Himmels Segen für ihr Kind erflehte.

Walburg erholte sich in der Gosau bei ihren glücklichen Kindern bald völlig von ihrer Krankheit, und als sie ein Kreis blühender Enkel umgab, die kleinen sich auf ihrem Schooße wiegten, die größern daneben lauschend standen, erzählte sie ihnen oft von der prachtvollen Kirche der Unterirdischen, vom gräulichen Tod des bösen Müllers, der zerschmettert im Abfluß des Strupp gefunden wurde, und von dem seltsamen Treiben und hilfreichen Sinn der Hallstädtertrottel.

Renate

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