Helmina und ihre Söhne
Erinnerungen aus meinem Leben
Chezy, Wilhelm <<von>>, 1806-1865 [VerfasserIn]
Schaffhausen: Fr. Hunter, 1863. - 310 S.
Zitierlink: http://data.onb.ac.at/rep/106756DF
Hier ist das ganze Buch.
Der Winter nahm Abschied, und da gab es noch ganz anderen Tumult, als von Staublawinen. Der Sturm, der Regen, der abrutschende Schnee, die schwellenden Wildwasser machten gehörigen Lärm. Auch ging der alte Tyrann nicht auf einmal von dannen, sondern wich Schritt für Schritt bergaufwärts, bis er im Hochsom- mer endlich sich auf den Gletscher des Dachsteines be- schränkt fand, von wo aus er im Herbste wieder nach abwärts vordrang. Am Traunsee überzogen sich die Bu- chenwälder bereits mit jenem ersten durchsichtigen Grün, das noch sammtweich wie Flaum sich um die Zweige schmiegt, als am Hallstädter See kaum die Osterblüm- chen dem frischen Grase entsproßten. Von ganz besonde- rem Reize war das Erwachen des Lenzes in der Ober- traun, dem Thale gegenüber von Hallstadt, wohindurch die Traun, von Aussee herunter kommend, sich dem See zuschlängelt.
Das genannte Thal mag an seiner unteren Mün- dung ungefähr 1200 Mannsschritte breit sein. Seine Länge bis zum Fuße der Berge beträgt eine halbe Weg- stunde. Das Erdreich sieht dort danach aus, als sei es angeschwemmt und dem See abgewonnen. Der Boden ist flacher Wiesengrund, mit zahlreichen Eschen besetzt, zwischen denen, weit verzettelt, die Häuser der Ortschaft stehen, bewohnt von Holzknechten, Pfannenknechten und Bergleuten. Von jeher war die Obertraun eine Heimat der berüchtigsten Wildschützen und der besten Bezirksförster, zu welchen die geschickteren Wilderer in der Regel befördert
wurden, und zwar aus demselben Grunde, welcher einst z. B. den ausgezeichneten Gauner Vidocq zum gefürch- teten Diebsfänger werden ließ. Die Wildschützen waren mit den Gehegen vertraut und, einmal in Eid und Pflicht genommen, die zuverläßigsten Jagdhüter. Sie machten es wie in ihrer Weise die Töchter des Landes, die im ledigen Stande sich unbedenklich alles erlauben, und denen sogar die handgreiflichsten Folgen nicht im mindesten zum Nachtheil gereichen; wenn sie aber einmal vor dem Altar den Schwur geleistet haben, so pflegen sie ihn getreulich zu halten. In der Obertraun herrscht der Brauch, daß die „Bu- ben“ (nämlich die ledigen Burschen) in der Nacht vom Ostersonntag zum Montag bei den Dirnen bunte Eier sammeln. Sie gehen zu diesem Behufe „fensterln“, doch sprechen sie für dießmal ihre „Gasslreime“ nicht, um– wie zu andern Zeiten– Einlaß zu begehren, sondern um Eier zu erhalten, deren jedes freiledige „Mensch“ einen Vorrath in Bereitschaft hält. Keiner geht leer von dannen; steht er nicht in Gunst, so erhält er wenigstens ein Stück. Eine größere Anzahl, die aber stets in un- grader Zahl verabreicht werden muß, zeigt ein gesteiger- tes Maß von Wolwollen. Fünf oder gar sieben Eier sind, was ein Selam mit Nelken und anderen brenn- rothen Blumen im Morgenlande bedeutet. Wilhelm und Max machten den Gang mit. Ihr Führer hatte, den Erfolg vorhersehend, einen großen Henkelkorb mitgenom- men, den er gefüllt heimtrug. Seine Mutter fütterte sich und seine kleinen Geschwister acht Tage lang mit den Eiern. Den zwei jungen Herren behagte es in der Obertraun
ganz absonderlich; so oft die Mama in Hallstadt weilte, brachten sie ihre meiste Zeit unter den Eschen zu, oft tage- lang sich von Eiern, Holzknechtnocken, Almenmus, Milch, Butter und Honig nährend. Ihr Gastfreund war ein Müller. Ich werde weiter unten auf ihn zurückkommen; vorerst ist noch Einiges vom nächtlichen Führer zu den verschiedenen Kammerfenstern zu sagen.
Er hieß mit dem Schreibnamen Johann Georg Hin- terer und wurde der schwarze Jodl genannt. Die Bekannt- schaft mit ihm hatte der Waldmeister von Hallstadt ver- mittelt. Unter „Waldmeister“ ist hier nicht etwa die duf- tige Pflanze zu verstehen, welche dem rheinländischen Mai- trank die balsamische Würze gibt, sondern ein Oberför- ster, der allenfalls den Wein in sich zu bergen weiß, aber sich nicht hineinstecken läßt. Zu besagtem Forstmann sprach Wilhelm gleich in den ersten Tagen der Bekannt- schaft: „Im Mai werde ich mich hier einfinden, um einen Schildhahn zu schießen, wenn Sie die Güte haben wollen, mir einen Jäger mitzugeben.“ Achselzuckend versetzte der Waldmeister, daß seine Leute viel zu bequem seien, um zu den Falzplätzen emporzusteigen. „Wissen's was,“ schloß er, „gengen’s mit den Wildprettschützen. Der schwarze Jodl war schon g'recht. Dem mögen's sich in aller Weis' anvertrauen. Wenn er bis auf's Jahr sich nicht hat fangen lassen, wird ein Platz frei, den ich ihm bestimmt habe.“ Wilhelm suchte nächsten Tags den Jodl auf. Der war zu allen Diensten erbötig, nur nicht zu dem verlangten. Der junge Herr könnte an einer Wand „kopfscheu“ werden, meinte er, und wenn dann ein Un- glück geschehe, so falle dem Führer die Verantwortung
zur Last. Wilhelm ließ den Gegenstand fallen, um später in den ersten Maitagen darauf zurückzukommen. Jodl beharrte auf seiner Weigerung. „Schon recht,“ sagte der Juvenis, „so werde ich mich damit begnügen, im Wald- gebirge Haselhühner zu suchen. Die Hegezeit soll ja, wie ich höre, hier nicht vor St. Johann von Nepomuk (16. Mai) beginnen.“ Jodl war gleich dabei. Nachdem die beiden ein paarmal mitsammen Haselhühner geholt, ge- schah es, daß sie eines Nachmittags oberhalb einer Fel- senwand sich zur Rast niederließen. Nachdem sie ihre mitgebrachte Labung verzehrt, stopfte Jodl sich ein Pfeif- chen. Wilhelm trat dicht an den Abhang hinaus, der– scheinbar senkrecht– sich ungefähr 30 oder 40 Klafter tief zu einer Schlucht niederzog. Nachdem der Fremd- ling eine geraume Weile zur Tiefe hinabgeblickt, setzte er einen Fuß dergestalt vor, daß die Spitze ein gutes Stück über die Steinkante hinausragte. Der andere Fuß wurde, mit der Ferse die große Zehe des ersten berüh- rend, frei in die Luft gestreckt. In der Schweiz soll man (wie ich viele Jahre später erst vernommen habe) dieses Kunststück „füßeln“ nennen; in Oesterreich scheint man keinen besonderen Namen dafür zu kennen.
Als Wilhelm sich zurückwandte, zeigte des Begleiters schwarzbraunes Antlitz nicht die geringste Veränderung. Er schien den Vorgang gar nicht bemerkt zu haben. Wilhelm jedoch kannte seinen Mann bereits hinlänglich, um zu wis- sen, woran er mit ihm war. Und richtig: wie sie Abends sich trennten, ließ Jodl zum Abschied verlauten, daß er bereit sei, nächsten Tages zum Landfried hinaufzusteigen. Dort sei der beste Falzplatz von allen, die er kenne.
Am nächsten Nachmittage wurde der Ausflug an- getreten. Fürwahr kein leichtes Stück Arbeit. Am ober- sten Ende des Obertrauner Thales ging es rechts auf- wärts, anfangs in milderer Steigung, dann immer steiler und unwegsamer, bis nach ein paar saueren Stunden der Wald ein Ende nahm und die zweite beschwerlichere Hälfte der Wanderung begann. Jetzt galt es, an den steilen Wänden schräg empor zu klimmen, von Vorsprung zu Vorsprung oft mit Händen und Füßen zugleich sich fortzuhelfen, zuweilen auch einen Satz zu einer Klippe zu machen, wo zwei Füße kaum Platz fanden und bei Todesstrafe nicht ausgleiten durften. Nach einigen sol- chen Sprüngen äußerte Wilhelm während des Ausschnau- fens, er habe gelesen, daß die Gemsenjäger sich zuweilen mit dem Messer ritzten, um sich mit dem eigenen Blute festzuleimen. Jodl lachte wie ein Kobold. Auf frischem Blute glitsche ja einer aus, sagte er dann. Weiter ver- lor er kein Wort über den Gegenstand. Zweifelsohne klebte ihm die Zunge am Gaumen, denn die sinkende Sonne brannte grimmig heiß auf das Kalkgestein, und die Wider- hitze schlug glühend aus der Wand. Kein Lüftchen regte sich. Wie durchs Wasser gezogen erreichten die Bergsteiger bei Sonnenuntergang die beschneite Höhe, wo eine frische Brise sie empfing. Mehr als nur abgekühlt erreichten sie den „Trieb.“ So nämlich heißt jede Stelle, wo in mehrfacher Zahl „Almhütten“ (Sennhütten) beisammen stehen. Eine der Hütten fand sich unversperrt, mit Klein- holz, einem Kochtopf und einer irdenen Schüssel versehen. So ist's Herkommen „zu Alm“ (auf der Alpe) nicht blos aus gastlicher Vorsorge, sondern auch deßhalb, weil
sonst zu befahren stünde, daß im Herbst und im Früh- jahre die Waidleute Thüren aufbrechen und Schindeln oder anderes Holzwerk zur Feuerung benutzen würden. Bald loderte eine lustige Famme auf dem Herde, woran Wilhelm sein Hemd trocknete und seine Glieder wärmte. Zum Trank und zur Bereitung der Abendkost diente ge- schmolzener Schnee. Gries, Schmalz und andere Lebens- mittel hatte Jodl mitgebracht, sowie die Pfanne nicht ver- gessen. Er bereitete vortreffliche Holzknecht-Nocken. Und da die Almerin bei ihrem Abzuge im Herbste auch nicht versäumt hatte, einiges Heu in der Lagerstätte zurück- zulassen, so fehlte es nicht an einem bequemen Ruheplätz- chen. Wilhelm hatte zur Genüge geschlafen, als bald nach Mitternacht die Zeit zum Aufbruche kam.
Der Schild- oder Spielhahn ist ein Verwandter des Auerhahns und wird gleich diesem beim Falzen erlegt, nur mit dem Unterschiede, daß der Auerhahn, ein Wald- sasse, auf seinem Zweige angesprungen wird, während den Schildhahn, der bei seiner Freierei im höchsten Gebirge auf offener Schneefläche sich fortbewegt, der Schütze in seinem Verstecke abzuwarten hat. Der Schildhahn wird fast ohne Ausnahme vermittelst der Kugelbüchse erlegt. Seine krummen Schwanzfedern, glänzend schwarz, sind der stolzeste Schmuck des Jägerhutes. Heutzutage frei- lich trägt sie mancher Städter, der sich als Curgast in Ischl wol sein läßt und nur zu denjenigen Höhen ge- langt, wohinauf er sich im Tragsessel kann schleppen lassen.
Der schwarze Jodl war fortan bis zu seiner Anstel- lung im Forstwesen klug und glücklich genug, sich nicht
beim Freveln ertappen zu lassen. Diesen Erfolg verdankte er theilweise dem Zufalle, welcher die zwei „Chezy-Bu- ben“ in's Gebirge geführt. Er durfte freilich die Gem- sen nicht behalten, welche sie während des Sommers mit- sammen erlegten, aber da er sich in der Hauptsache be- friedigt sah, indem er der Leidenschaft für die Jagd fröh- nen durfte, so ließ er sich die Einbuße schon gefallen. Zudem hatte er noch zwei besondere Gründe, sich mehr als früher in Obacht zu nehmen. Durch Wilhelm er- fuhr er, wie freundlich der Waldmeister es mit ihm meinte. Anderseits diente ihm das Schicksal seines jünge- ren Bruders zur Warnung. Der Hiesl (Mathias), ein „frischer Bue“ von 25 Jahren, hatte nämlich im Win- ter zuvor mit drei Gesellen ein Altthier in den Wald- bergen hinter der Obertraun gepirscht. Auf handhafter That betroffen, hatten sie sich zur Wehr gesetzt. Hiesl hatte dabei ein paar Hiebe mit dem Jagdmesser in den linken Unterarm erhalten und dann nebst einer Kerker- strafe von vier Monaten und der dazu gehörigen Ein- streuung mit ungebrannter Asche auch noch eine steife Hand davon getragen. Jodl hatte aber sogar noch mehr auf's Spiel zu setzen, da ein abgestrafter Wilderer keine Anstellung bei der Jägerei zu erhalten pflegte.
Der schwarze Jodl hatte bei allen seinen vorzüglichen Eigenschaften übrigens einen Fehler an sich, der seine Ge- sellschaft manchmal unbequem machte: er ging mit dem Gewehre sehr unvorsichtig um. Als er eines Tages einen steilen Felsenpfad hinabkletterte, sagte Max hinter ihm: „Trage deine Flinte wie ich die meine. Wenn dein Schuß losgeht, trifft er mich.“ Jodl hatte nämlich das Gewehr
über der linken Schulter, den Lauf nach aufwärts, das Schloß gegen die Wand gekehrt. Es könne nichts ge- schehen, meinte er dagegen, denn er habe die Pfanne mit einem Stück Papier verwahrt. Sein Schießzeug war eine lange Entenflinte und, wie aus den angeführten Worten hervorgeht, mit Steinfeuer bewehrt. Max gab sich zu- frieden. Kurz darauf geschah es auf einer der steilsten Stellen, daß Jodls Ladung trotz des verwahrenden Pa- pieres losbrannte, zu allem Glück nahe genug vor Max, daß die Schrotkörner noch nicht streuen konnten. Sie fuhren, dicht beisammen wie eine Kugel, dem Maler vor der Nase vorbei und schlugen durch des grünen Steier- hutes breite Krempe ein einziges rundes Loch. Max war, obschon von reizbaren Nerven, durchaus nicht schreckhaf- ten Gemüthes. Kaltblütig in jeglicher Fährlichkeit, fiel es ihm am allerwenigsten ein, noch nachträglich sich vor einer überstandenen Gefahr zu fürchten. Den Hut ab- nehmend und die Verwüstung betrachtend, sagte er: „Du Esel, mit deiner Dummheit kostest du mich sechs Zwan- ziger. Schade um's Geld.“ Jodl seinerseits schien mehr todt als lebendig. Den ganzen Rest des Tages über ging er wie ein Schlafwandler umher. Er war, um es mit einem landesüblichen Ausdruck zu bezeichnen: völlig „bummerwitzig.“ Die Lehre war gewiß sehr eindringlich, doch immer nur die Horazische Dunggabel, denn zwanzig bis dreißig Jahre später hat sich der Bezirksförster Johann Georg Hinterer aus Unvorsichtigkeit mit dem eigenen Geschoß tödtlich verwundet.
Kehren wir zum Thale zurück. Der oben erwähnte
Müller in der Obertraun, Mathias Hinterer geheißen, war zugleich protestantischer Schulmeister in der Hallstadt, wo er auch an den Sonntagen, an welchen der Seelsorger seines Bekenntnisses aus Goysern nicht erschien, die Pre- digt, wenn nicht eigentlich hielt, so doch aus einem Buche vortrug.
Die Zahl der Protestanten war im Kammergute nicht gering, seit Joseph II. für seine Erblande diesseits der Leitha das s. g. Toleranz-Edict erlassen hatte. Kaum war die Verordnung erschienen, welche den Glaubensverwandten des Augsburgischen wie des helvetischen Bekenntnisses er- laubte, fortan ungestraft sich öffentlich von der katholi- schen Kirche loszusagen, als sich auch zeigte, daß während der Verfolgung seit Ferdinands II. Tagen eine starke Ge- meinde von Akatholiken im Berglande sich erhalten hatte, deren Mitglieder äußerlich die Katholiken gespielt, um nicht des Landes verwiesen zu werden und draußen am Heim- weh zu sterben. Auch hier hatte sich die alte Erfahrung be- währt, daß Glaubenszwang die Menschen nicht bekehrt, sondern zur Verstellung treibt. Das Toleranz-Edict war übrigens weit davon entfernt, den nicht katholischen Unter- thanen alle die Rechte zuzusprechen, welche ihnen als Staats- bürgern gebührten. Joseph II., dessen offenkundiges Stre- ben dahin ging, sich im Geiste eines Ludwig XIV. zum Kaiser- Papst aufzuwerfen, hatte fürwahr nicht deßhalb die katholische zur Staatskirche erniedrigt, um andere Be- kenntnisse der polizeilichen Vormundschaft zu entlassen. Nach seinem Tode mußten erst zwei Menschenalter ver- gehen, bevor sein vierter Nachfolger das Werk der Ge- rechtigkeit damit begann, die Freiheit der katholischen Kirche
herzustellen, um dann wenige Jahre darauf alles geistliche Wesen des weltlichen Zwanges zu entbinden und endlich durch die Ertheilung der Verfassung vom 26. Februar 1861 grundsätzlich festzustellen, daß die Religions-Genos- senschaften insgesammt zwar unter dem Schutze des Ge- setzes stehen, aber aller Bevormundung durch die Ver- waltung enthoben bleiben müssen, durch welche allgemeine Befreiung– beiläufig bemerkt– das einst so schätz- bare Concordat für die Katholiken seine Bedeutung und seinen Werth, für die nichtkatholischen Oesterreicher seinen Schrecken verloren hat.
Auf diese Verhältnisse denke ich seinerzeit in der letz- ten Abtheilung dieser Aufzeichnungen eingehend zurück- zukommen. Hier füge ich nur eine erklärende Bemerkung über meine Ausdrucksweise bei. Die Regierung, welche als solche keinem Bekenntnisse mehr angehören darf, hat jede Glaubenspartei mit dem Namen zu bezeichnen, wel- chen sie sich selber beigelegt, und nennt daher ganz folge- recht die Staatsbürger Augsburgischen Bekenntnisses: Evangelische. Wir Katholiken aber haben die Pflicht wie das Recht, sie Protestanten zu heißen. Die Pflicht, weil wir überzeugt sind, daß nur wir den evangelischen Glau- ben besitzen; das Recht, weil keine Macht der Erde uns nöthigen darf, durch irgend eine Bezeichnung gleichsam förmlich anzuerkennen, daß unsere protestantischen Mit- bürger im Rechte gegen unsere Ueberzeugung seien. Wir freuen uns, sie als Angehörige des freien Verfassungs- staates neben uns zu sehen; sie über uns zu stellen, liegt nicht in unserer Absicht.
Der Müller-Schulmeister war ein stattlicher Mann
in den Fünfzigen, groß und stark wie ein Riese, mit feu- rigen Augen und einer vollkräftigen Stimme von metal- lischem Wolklange, das Abbild einer jener Gestalten aus der Vorzeit, welche in den Waldschluchten des Gebirges die Gemeinde zu heimlicher Andacht versammelten. Seine Mühle verwaltete er selber, doch das Mahlen besorgte ein junger Knecht, bekannt unter dem Namen des weißen Teufels, seit er bei einem nächtlichen Abenteuer in sei- nem mehlstaubigen Gewande von ein paar „frischen Bu- ben“ aus der Steiermark für ein Gespenst gehalten wor- den. Der „frische Bue“ ist, was in der Stadt der Stu- tzer, in Andalusien der Majo; versteht sich, in seiner eigenen Weise. Wildern, Fensterln und Raufen sind seine hauptsächlichsten Liebhabereien. Seine Kennzeichen: Ju- gend, Stärke und leichter Sinn. Im Kammergute ge- hörte zu meiner Zeit die größere Halbscheid der ledigen Burschen dieser „jeunesse dorée“ an.
Helmina war mit dem protestantischen Pfarrer in Goysern eng befreundet. Er hieß wie seit fünfzig Jah- ren seine meisten Amtsvorfahren zu Goysern: Wehrenfen- nig. Seinen jüngsten Sohn habe ich im Jahre 1861 als seinen Amtsnachfolger gefunden. Seine Frau stammte ebenfalls aus einer jener Familien, deren Gliedern die protestantischen Gemeinden im Berglande die Seelsorge zu übertragen pflegten. Ihr Vater war der Pastor Over- beck in der Gosau. Sie hatten mitsammen viele Kinder, so daß es beinahe unbegreiflich schien, wie in dem klei- nen Pfarrhofe neben dem thurmlosen „Bet-Hause“ der zahlreiche Hausstand Raum fand und gelegentlich auch noch Gäste untergebracht werden konnten. Das Haus ist späterhin bedeutend vergrößert worden. Das gottesdienst- liche Gebäude hat sein kirchliches Aussehen erhalten, so- bald der Kaiser Franz Joseph– schon ein paar Jahre vor Ertheilung der Verfassung– die beschränkenden Be- stimmungen aufgehoben, welche keinen Thurm und kein Geläut zuließen. So wurde die ehrgeizige „Toleranz“ Josephs II. in wahre Duldsamkeit verwandelt und da- durch in entsprechender Weise die Gleichberechtigung vor- bereitet. Zu derselben Frist, worin die bisherigen Bet- häuser der Protestanten sich zu Kirchen umgestalten durften, wurde auch den Oesterreichern mosaischen Bekenntnisses gestattet, ihren Synagogen ein der Bestimmung entspre- chendes Aeußeres zu geben.
Wehrenfennig erfreute sich eines großen Ansehens unter seinen Glaubensgenossen in ganz Oesterreich und wurde mit der Zeit zu den höchsten Stellen in ihrer Hierarchie berufen.
Bevor ich den Blick wiederum dem Traunsee zuwende, sei noch einer Lieblingsstelle am Hallstädter See erwähnt. Am östlichen Gestade steht dort in schauerlicher Einsam- keit ein ziemlich kleines Haus, kaum größer als ein ge- wöhnlicher Bauernhof, aber seiner Berechtigung nach ein Schlößchen. Es heißt: Die Grueb (sprich Grub mit langedehntem u). Düstere Sagen knüpfen sich an den unheimlichen Aufenthalt. Wilhelm hat ihn nachmals zum Schauplatz eines Theiles der Handlung in einem Roman erkoren, der unter dem Titel „der fahrende Schüler“ im Jahre 1835 bei Orell, Füßli und Comp. in Zürich er- schienen ist und den Salzburger Bauern-Aufruhr von 1525 zum Hauptgegenstand hatte. Das Buch hat nur einen
mittelmäßigen Erfolg erzielt; wie ich denn schon früher, als von Gustav Schilling in Dresden die Rede war, er- wähnt habe, daß es Wilhelm wie diesem ergangen ist: seine Erzählungen von geringerem Umfange sind nicht un- beachtet geblieben, während er mit seinen Romanen kein Glück machte. Blos zwei davon sind völlig vergriffen worden, ohne jedoch in literarisch maßgebenden Kreisen sich geltend zu machen.
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