top of page
Suche

Was ich in russicher Gefangenschaft erlebte.

Autorenbild: Gerhard ZaunerGerhard Zauner

Erzählungen von dem Austauschgefangenen Josef Stadler in Hallstatt.

Vom k. u. k. Kriegsüberwachungsamt zensuriert und genehmigt.



Die heißen Tage von Limanowa.

Limanowa! Die Leser werden sich noch erinnern an diesen Namen und an die schweren, wechselvollen Kämpfe, die unsere Truppen in dieser Gegend im ersten Kriegswinter gegen die russische Übermacht zu bestehen hatten. Es war am 14. Dezember 1914 um 4 Uhr früh, da hatte meine Kompagnie, es war die sechste, in der Schlacht bei Limanowa, Sturmangriff auf die Russen.


Unser Herr Leutnant, ein tapferer Salzburger, sagte da uns die Russen schon längere Zeit beschossen hatten: „Also, packen wir die paar Mandl; es ist nichts dahinter; sie machen nur ein Mordsspektakel. Stellt's euch ein bißl zusammen, damit ich weiß, was ich für Leute noch bei mir hab'!" Wir hatten nämlich schon starke Verluste erlitten. Kaum standen wir beisammen, überschüttete uns der Feind schon mit einem Regen von Kugeln und die Hälfte der Kameraden lagen im Blute. Wir übrigen stürmten einen kleinen Berg hinauf, immer hörte man das ewige „Au weh! mich hats getroffen!"

Der Erdboden war schon hart gefroren und so glitt ich mit meinen fast nagellosen Schuhen immer aus. Ich wollte mich an einem Bäumchen halten, berührte aber selbes noch nicht — pfiff mir eine Gewehrkugel durch das rechte Handgelenk und riß mir den Daumen in Fetzen aus der Hand. Nun warf ich mich auf der Stelle nieder und schoß wie verrückt auf ein zirka 79 Schritte vor mir liegendes Maschinengewehr, aber meine Patronen waren bald zu Ende und vom Tornister konnte ich keine herausnehmen. Die Kugeln aber umschwirrten mich wie gereizte Wespen, die eine unberufene Hand in ihrem Heim gestört. Deckung war keine zu finden, ein Zurück gab es nicht, da alle Verwundeten, die sich zurückretten wollten, nochmals getroffen wurden.


Ungefähr 100 Schritte vor mir stand ein Bauernhaus, dort, dachte ich mir, kannst du Zuflucht nehmen. Ich sprang auf, lief aber nicht zehn Schritte, zersplitterte mir ein Dum-Dum-Geschoß die linke Kniescheibe. Die Beinsplitter rannen mir mit dem Blut aus Fuß und Hand. In Verzweiflung lag ich nun da im größten Eisenhagel, den Kopf in den Acker gesteckt, um mich vor einer dritten Kugel zu schützen.


Zwei Stunden bangen Wartens hatten infolge des großen Blutverlustes fast alle meine Kräfte ausgezehrt. Endlich ließ die Schießerei etwas nach und ich probierte ein paarmal das Aufstehen, doch vergebens. Das Bein, das mir hinunterhing, tat nicht mehr mit und die Mattigkeit hatte alle Glieder beschlichen. Nun schleppte ich mich mühsam unter unsäglichen Schmerzen und mit dem letzten Kräfteaufwand ins nahe Bauernhaus.


Unterwegs traf ich einen Leidensgenossen, einen Korporal, der einen Bauchschuß hatte und erbärmlich jammerte, und wir klagten einander unsere Schmerzen. Bald vom Feind beobachtet und neuerdings heftig beschossen, steckten wir, unsere Köpfe wieder in die Erde und der Tornister flog kopfüber.

Als es wieder ruhiger wurde, sagte ich zu meinem Kameraden: „Versuchern wir wieder ein Stück vorzukriechen," erhielt aber keine Antwort mehr, er hatte ausgelitten.


Unter den Russen.

Nun setzte ich meinen Weg allein fort und erreichte endlich nach großer Anstrengung die Stätte, in der ehedem vielleicht eine glückliche Familie sich am Herde gewärmt. Ich hatte aber wieder kein Glück.

Der Türstock war hoch und dazu lagen noch zwei tote Russen darüber,.so daß ich mit meinem zerschossenen Fuß nicht hineinzugelangen vermochte. Zu allem Unglück hatten mich die Feinde schon wieder im Auge und jagten mir Kugel um Kugel nach.


In diesem Augenblick gewahrte ich einen tiefen Graben und wälzte mich hinein. Welch schauderhafter Anblick! Der ganze Graben war voll von Russen. Starr lagen sie da und rührten sich nicht, wie wenn der Hauch des Todes über sie hinweggegangen wäre, und ich hielt alles für ein einziges wüstes Leichenfeld.

Doch wie staunte ich, wie ich vor ihnen lag und sie mich verwundert anglotzten. Nun wähnte ich mein letztes Stündlein gekommen.


So lag ich mindestens eine Stunde, die Russen auf beiden Seiten, den Tod vor Augen. Ich glaubte, jetzt würde ich bald auf einem moskowitischen Bajonett stecken: aber es waren doch Leute, die ein Herz im Leibe hatten.


Endlich fingen sie an, ihre Verwundeten wegzuschaffen und die Toten zu begraben. Mich ließen sie hilflos im Fieber liegen. Lange dauerte diese qualvolle Zeit. Dann kamen wieder Russen und — raubten mir meine kleinen Habseligkeiten: Taschenmesser, Zigarettendose, einen Betrag von 2k 70h, verschiedene Briefe sowie eine Photographie von meinem lieben Weib und Hansl, was mich sehr kränkte.


Kurz darauf erschienen wieder andere mit unserem Leutnant und vielen Österreichern, die gesund in ihre Hände gefallen waren. Der Herr Leutnant legte für mich bei den feindlichen Offizieren Fürsprache ein, damit ich auf einen Hilfsplatz gebracht würde, worauf mich bald zwei Russen ins nächste Bauernhaus trugen, wo schon alles mit Verwundeten überfüllt war. Neben mir stöhnte in seinen furchtbaren Leiden ein biederer Tiroler, welcher sechs Bajonettstiche durch die Brust bekommen hatte und noch am selben Abend verschied.

Die Russen bekümmerten sich um uns sehr wenig, wir bekamen nichts zum Essen und Trinken, von einem Arzt war überhaupt nichts zu sehen und so mußten unsere Wunden in Brand übergehen.


Das waren die verheißenden Vorzeichen von der schrecklichen Gefangenschaft. Drei Tage solchen Elends mußten, wir so unter den bittersten Schmerzen überdauern. Die Bauernleute waren sehr gut mit uns, leider hatten sie auch nur Kartoffeln und Tee ohne Zucker. Sie beteten für uns Krieger alle Abend.


In der Nacht nach dem dritten Tag lud man uns wie Holzscheiter auf einen Wagen und führten uns einen Berg hinunter. Wir hätten vor Schmerz wahnsinnig werden können, so peinigte uns die dreistündige Fahrt nach Tarnow, wo wir um 12 Uhr nachts anlangten. Dort wurde ich in einem Spital zum erstenmal verbunden, dann sofort zur Bahn gebracht und in Viehwaggoms eingeladen. Ich kam allein unter lauter Russen, Lümmeln erster Klasse. Nach zweitägiger, schrecklicher Fahrt wurden wir Schwerverwundeten in einer kleinen Stadt, deren Namen ich heute noch nicht weiß, ausgeladen und wanderten in eine Baracke (Feldlazarett): dort kam ich allein in eine Abteilung, in welcher noch niemand sich befand.

Sie legten mich in ein Bett, schnitten mir Haare und Bart mit einer Haarschneidemaschine. Der Tag, den ich dort verbringen mußte, schien mir eine Ewigkeit voll Verzweiflung und immer wieder suchten meine Gedanken zurück zu den Lieben in der Heimat.


Tags darauf durfte ich endlich in einem anderen Spital, in das ich zugeteilt wurde, zwei deutsche Kameraden vom Linzer Inst.-Regt. No. 14 sehen, von denen aber auch einer am nächsten Tag nicht mehr zu den Lebenden gehörte.


Eine russische Operation.

Meine Schmerzen wurden immer heftiger, der Eiter vom Fuß rann jeden Tag durchs Bett auf den Boden.Ich konnte mich nicht mehr rühren. Auch die Hand wurde brandig und schmerzte mich furchtbar, am Fuß mußten sie mir alle Tage aufschneiden. Jede Minute Schlaf blieb mir versagt. Ich magerte fürchterlich ab.Am Heiligen Abend 1914 um 8 Uhr abends kamen zwei Mann und trugen mich in ein Operationszimmer, verbanden mir die Augen, hielten mich fest und so wurde mir der Ballen und das Gelenk vom Daumen aus der Hand herausgenommen. Was ich dabei auszustehen hatte, läßt sich schwer schildern. Mir läuft es bei der bloßen Erinnerung noch kalt über den Rücken. Als es durchs Bein ging, hielt' ich es nimmer aus. Ein Ruck machte mich frei, ich riß das Tuch von meinen Augen und wollte schauen, im selben Augenblick erhielt ich schon zwei Ohrfeigen.


Hierauf wurde ich wieder geblendet und die Oualen gingen von vorne an.

Nun war die Daumenoperation vorüber, aber jetzt hatte ich noch meinen Fuß, welcher schon ganz kohlschwarz geworden. Zu meinem größten Glück hatten wir einen guten Arzt, wie einer überhaupt sein soll. Er tat mir alles, was ihm möglich war. Er sah, daß es mit meinem Leben nicht mehr viel hieß. Ich phantasierte immer von Röntgenstrahlen und bat, man soll mich untersuchen. Der Arzt eröffnete mir aber, daß das Spital zu klein sei und solche Instrumente nicht besitze, und versprach mir, mich in eine größere, besser eingerichtete Anstalt zu schicken. Beim Verbinden sagte er nur immer: „Stadler, wenn Sie heute nicht zu viel schreien, bekommen Sie ein Stamperl Kognak zum Trinken." Es war mir eine Unmöglichkeit, das Schreien zu unterdrücken. Der versprochene Kognak aber wurde mir doch zuteil, weil der Arzt einsah, was ich für Schmerzen aushalten mußte. So vergingen vier Wochen, in denen ich die bedenkliche Nähe des Todes fühlte. Bald lag links, bald rechts ein Kamerad, der ausgelitten hatte und ich dachte mir, bald wird auch an dich das Schicksal herantreten, und weilte im Geiste bei all meinen Lieben zu Hause.



In Tscherkassi.

Eines Vormittags brachten mir russische Sanitätssoldaten meine Kleider, welche sie mir aber nicht anziehen konnten, da ich es nicht aushielt. Dies war am 4. Jänner, 1915. Ich wurde ans dem Bette gehoben und auf eine Tragbahre gelegt und mit einer Decke überhüllt. Der Arzt gab mir noch vier Kronen und trug mich selbst mit Unterstützung eines Soldaten zur Bahn.

So fuhren wir dann drei Tage in einem feinen Sanitätszug. der am 7. Janner Tscherkassi, seine Bestimmungsstation, erreichte.


Es ist dies eine russische Kreisstadt im Gouvernement Kiew, am Dnjepr gelegen, ungefähr von der Größe der oberösterreichischen Stadt Wels. Sie beherbergt zahlreiche Fabriken sowohl der Metallbranche wie auch zur Erzeugung von Zucker. Bier, Tabaksorten usw.


Ich wurde aus einen Schlitten geladen neben einen weniger schwer verwundeten Russen. Nun ging es Hügel auf, Hügel ab der Stadt zu. Der Kutscher rief heida, heida! Ich schrie vor Schmerz: Langsam! Langsam! Aber das verstand der Russe nicht und hieb fest auf die Pferde ein. Nach dieser qualvollen Fahrt erreichten wir um 8 Uhr abends das bestimmte Spital, standen aber wieder eine volle Stunde auf der Straße, bis für uns ein Platz frei war. Um 11 Uhr nachts kam ich ins Verbandzimmer, in welchem ich zu meiner Freude einen österreichischen Arzt und Mediziner sah. Ich kam sogleich auf den Operationstisch und im Nu waren drei Ärzte um mich. Es wurde mir nun der Eiter aus dem Fuß gedrückt, was mir natürlich nicht gerade wohl tat. Unsere Ärzte sprachen schon alle sehr gut Russisch und konnte ich von dem, was sie redeten, nichts verstehen. Aber durch Andeutungen der russischen erkannte ich, daß mir der Fuß sofort abgenommen werden müsse, wie mir denn auch der österreichische Doktor bald in aller Form mitteilte. Nach seinen Worten kamen mir die Tränen, aber der Gedanke an meine Heimat stärkte mich. Sie trugen mich dann in mein Bett.


Am 8. Jänner wanderte ich abermals, der Krankensaal eines anderen Spitales nahm mich auf und meine nunmehrige Umgebung bildeten durchwegs Verwundete mit amputierten Gliedmaßen. Aus einem Zimmer traten vier Aerzte in weißen Mänteln heraus. Der Chef von ihnen trat auf mich zu und fragte mich in gebrochenem Deutsch: „Wollen Sie Fuß schneiden lassen?" Mit Tränen antwortete ich: „Wenn es sein muß, freilich."


Ich wurde in ein Zimmer getragen und auf einen Tisch gelegt. Dann schlug der Chefarzt ein weißes Tuch über meinen Fuß: eine Schwester stand hinter mir und gab mir die Narkose. Ich zählte nur bis neun, dann war ich schon zu schwach. Aus der Narkose erwachte ich im Bett fast ohne Schmerzen. Der erste Griff galt meinem Fuß, der leider schon unter russischer Erde lag. Aber es war schon einmal so und ich machte mir nicht viel daraus, weil nur die großen Leiden fort waren.


Am nächsten Tag wurde ich schon von einem österreichischen Arzt verbunden, Herrn Dr. Bruno Opitz aus Graz, der sich die äußerste Mühe mit mir gab. Er kam täglich um 9 Uhr vormittags zu mir und ich konnte die Zeit gar nicht mehr erwarten, bis mein guter Herr Doktor kam und freute mich jedesmal auf seine Ankunft trotz des schmerzhaften Verbandwechsels. Wir sprachen dann mitsamen Deutsch, was immerhin eine Aufheiterung in diesen Trübsalstagen war.


Eines Morgens lag ich wieder auf dem Tisch und während des Verbindens plauderte Herr Dr. Opitz allerlei mit mir: ich weiß nicht mehr worüber. Er mußte lachen, im selben Angenblicke kam eine Schwester und fragte ihn, was ich zu ihm gesagt habe. Er erwiderte der Pflegerin: „Der Stadler wundert sich, daß in Rußland so fesche Mädel sind." Natürlich hatten wir von ganz anderen Dingen gesprochen. Ich bekam aber als Lohn für die Anerkennung ihrer Schönheit von der Schwester schnell einige Äpfel, weil mir die russischen Mädel so gefallen haben, wovon ich nur das Umgekehrte feststellen kann. So war Herr Dr. Opitz immer guten Humors. Er allein hat mich gerettet und noch viele andere, welche er behandelte. Die Verpflegung in Tscherkassi war gut.


Nach der Operation bekam ich zum Frühstück, so um 7 Uhr, Tee und Weißbrot, nach dem Verbinden eine Schale Kakao und zwei Eier, gegen 12 Uhr mittags Rindsuppe, Fleischkrapferl und Obst, um 3 Uhr nachmittags wieder Tee, zum Nachtmahl um 6 Uhr Milchspeise und um 8 Uhr nochmals Kakao und ein Ei.


Also eine Verpflegung, mit der man in Feindesland voll kommen zufrieden sein konnte und von der man nur wünschen darf, daß sie auch heute noch unseren in Gefangenschaft geratenen Verwundeten zukäme. Leider hatte diese Versorgung den einen Fehler, daß sie nur allzu kurze Zeit währte. Denn nach drei Wochen mußte ich mich bereits an die russische Kost wohl oder Übel gewöhnen.Von da an gab es Kabusta (Krautsnppe) mit Kartoffeln und zu Mittag ein Stückchen Rindfleisch.


In Rußlands alter Hauptstadt.

Bald schlug wieder die Stunde der Trennung, des Abtransportes in eine neue Station: es ging nach Moskau, der alten Hauptstadt Rußlands, in der einst der große Napoleon das Schicksal seines unglücklichen Rückzuges besiegelte. Diese Millionenstadt an der Moskwa mit ihren fast 1000 Fabriken, mit ihren zahlreichen Kunstbauten, Denkmälern, mit ihren zehn Theatern und zahllosen Kirchen — es sollen deren etwa 600 sein — erinnert, wenn man von dem vielfach byzantinisch-maurischen Baustil der Kirchen absieht, ganz an das Gepräge der westeuropäischen Großstädte und steht ihnen an luxuriöser und verfeinerter Lebensweise durchaus nicht nach. Ihr Hauptgebäude ist wohl der bekannte Kreml, der berühmte Palast, der kurz nach dem Einzug der Franzosen in Moskau im September 1812 in Flammen aufging. Des Interesses halber sei hier auch noch angeführt, daß Moskau die größte Glocke der Welt besitzt, die „Zarglocke", die fast acht Meter in der Höhe und 20 Meter im Umfang mißt. Nach der Sage ist die Stadt von Juriz Dolgornki gegründet worden, ein Name, der heute noch im russischen Hochadel eine Rolle spielt.


Ich bin viermal mit der Elektrischen durch die ganze Stadt gefahren. Ich hatte auch Gelegenheit, dort Begräbnisse zu sehen. Die Russen tragen ihre Leichen im offenen Sarg zum Friedhof hinaus. Die Leidtragenden gehen nur bis vor den Hof, der noch zum Trauerhaus gehört, dann geht einer mit dem Sargdeckel voraus, dann kommt der Pope (Geistliche), der Kreuzträger, hierauf die Träger mit dem offenen Sarg, in welchem die Leiche so drinnen lehnt, daß sie jeder sehen kann. Der Tote ist schön angezogen.

Unsere Kameraden wurden dagegen sehr armselig begraben. Die Wärter mußten von alten Brettern einen Sarg zusammennageln. War dieser zu kurz, so wurde die Leiche einfach hineingelegt und daraufgesprungen, bis sie endlich hineinpaßte. So sahen wir es in Moskau! Es tat uns wohl sehr leid, aber wir durften nichts dagegen einwenden.


Hospital Nr. 11.

Hier war die Verpflegung nicht so schlecht, desto miserabler dafür die ärztliche Behandlung. Zum Glück hatten wir wenigstens eine sehr gute Schwester, die sehr um mich besorgt war, mir überall zur Seite stand und mich hie und da sogar mit Zigaretten und Eßwaren versorgte. Auch ein Russe, ein alter Krieger, der mir täglich zwei saftige Gurken und Brot sowie Zucker zum Bett brachte, bereitete mir durch sein Mitgefühl große Freude. Als meine Aufnahme im vorgenannten Spital Mitte Februar erfolgte, konnte ich noch nicht stehen. Sie warfen mir ein Paar Krücken vor, ich stürzte einige Male zusammen, aber mit der Zeit ging es schon.

Am ersten Tag trug mau mich in ein Verbandzimmer. Da sagte mir der Feldscher (Sanstätsunteroffizier): „Den Fuß muß der Herr Doktor selber sehen." Aber es vergingen drei Tage, bis dieser zum Vorschein kam. Eines Tages lag ich wieder am Operationstisch, der Arzt schaute nur von weitem hin und meinte! „Da muß noch ein Stück weg!" Bei dieser Äußerung dachte ich mir schon: Ist's denn wirklich nicht mehr möglich, meine liebe Heimat zu sehen? Ich entgegnete, daß ich mich auf keinen Fall mehr operieren lasse, geht es aus, wie es will — denn der Fuß war ja schon wunderbar geheilt. Der Doktor war über meine begreifliche Aufregung sehr ungehalten, ließ mir aber doch endlich eine Ruhe. Nach 14 Tagen mußte ich abermals wandern: ins Spital Nr. 7.


In Orel.

So verbrachte ich denn noch einige Wochen in der Stadt, die lange Zeit das ausschließliche Zentrum der russischen Politik gewesen und auch dem Volk den Namen der Moskowiter, Moskali gegeben. Am 28. April nahmen wir Abschied von ihr, da wir nun in eine kleine Provinzstadt, nach Orel abkommandiert wurden. Orel, an der Mündung des Orlikflusses in die Oka, besitzt einen schönen Hafen und eine reizende Lage wie Gmunden. Auch eine elektrische Straßenbahn sorgt für den lebhaftem Verkehr des ganz bedeutenden Handels- und Industriezentrums. Unser Spital war eine Schule, deren Lage uns gestattete, zu schauen, wie in Rußland die Natur ihre erwachten Triebkräfte entwickelt. Ganze Tage lehnten wir oft am Fenster und sättigten uns an der herrlichen Maienpracht, die leider zu unserer Lage in so schreiendem Gegensatz stand. Und das erstarkende Grün der Pflanzenwelt und der warme Hauch der Frühlingslüfte schwellten auch unsere Brust und die weichen Zephyrsschwingen trugen unsere Gedanken, unsere Sehnsucht, unsere Wünsche heimwärts, wo wir die ersten deutschen Laute gelallt, wo sich liebende Herzen in banger Sorge zermarterten. Kam ein Vogel geflogen aus dem blauen Himmelsraum und ließe sich nieder zu uns und trüge uns eine deutsche „Taube" mit ihren mächtigen Schwingen fort von hier, heim in das Land unserer Träume, wie schön das wäre.

In Orel ging es mir freilich nimmer so schlecht. Mein Fuß war geheilt und hier kam ich auch mit Österreichern zusammen. Einer hieß Hofböck Franzl aus Schladming und hatte ebenfalls eine schwere Verwundung am Fuß davongetragen, der andere Madlschweiger Josef beim Zierer in Perg, Liezen, Obersteiermark. Wie dem Wanderer das eintönige Bild der Ebene, so strichen uns die Tage langweilig und träge dahin, losgelöst von den großen Begebenheiten und den spannenden Ereignissen des Weltkriegs.

Ein mal gab es eine aufregende Begebenheit: Unsere beste Schwester hatte sich vergiftet, weil ihr Mann als Offizier im Feld stand und sie von einem anderen Mutterfreuden entgegensah.


Auf der Fahrt von Orel nach Tula.

Am 26. Mai 1916 ging es wieder zurück nach Tula, wo wir bis 14. Juni blieben und schließlich zum Austausch vorgeschlagen wurden. Die Reise von Orel nach Tula war wunderschön, alles stand in prächtigster Blüte.

Unser Interesse beanspruchten besonders die Unmengen von Krähen mit ihren Nestern aus den Birken neben der Bahn und das fürchterliche Geschrei dieses lästigen Geflügels, das den ganzen Tag hindurch mit einer Ausdauer, die einer besseren Sache würdig wäre, uns in die Ohren gellte. Diese Tiere sind nicht schwarz wie die unsrigen, sondern grau und fressen auch mitten in der Stadt mit den Tauben. Auf den Feldern weideten in großen Scharen Kühe, Schafe und Pferde.

Die Ortschaften auf dieser Strecke sind armselig gebaut, nur Hütten aus Lehm mit Strohdach. Aber mochte ein Ort noch so unschön und unansehnlich sein, so hob sich umsomehr der Prunkbau der Kirche ab von der geradezu unsauberen Umgebung und die vergoldete Turmkuppel, die man allerorts im lachenden Sonnenschein erblickte, war jedenfalls ein lebendiger Zeuge für das religiöse Gefühl, das in den Herzen der russischen Landbevölkerung verankert ist, aber auch ein beredtes Werkzeug für die Macht des Zaren über das schier endlose Reich.

Die zentralrussische Gouvernements- Hauptstadt Tula, von den Wassern der Upa durchquert, weist ebenfalls eine annehmliche Lage aus und gleicht auf den ersten Blick unserem geliebten Bad Ischl.

Am 14. Juni fuhren wir drei Amputierte und ein Blinder im Einspänner zum Bahnhof. Russische Leute, vor allem Kinder, liefen uns in Scharen nach und schrien „Austrizki! Austrizki!" Wir hatten vier Mann Bewachung mit. Ich fragte die Posten, warum wir Krüppel noch eine solche Bedeckung brauchen und erhielt zur Antwort: „Die Leute sind gegen euch sehr erbittert und könnte auch etwas geschehen."

Am Bahnhof stiegen wir in einen Personenzug, welcher uns zur Austauschsammelstelle Spital Nr. 10 in Moskau führte. Darin waren 600 Amputierte und Blinde untergebracht, ein wahrer Jammerhaufen. Die Verpflegung war hier mittelmäßig, die Behandlung ließ sehr viel zu wünschen übrig. Wurde z.B. einer ohne Füße beim Rauchen ertappt, so bekam er drei Tage hartes Lager und Wassersuppe.


Eine Deutschenhetze in Moskau.

Vom 29. Juni bis 1. Juli wütete in Moskau ein Aufstand gegen die deutschen Ansiedler. Plötzlich ließ sich von der Straße her ein vielstimmiges Johlen und Schreien vernehmen. Wir stürmten zum Fenster und schauten hinab auf einen größeren Platz und sahen, wie sich eine ungeheure Menschenmenge durch die Straßen und Gassen hinwälzte. Vier Männer trugen das Bild des Zaren, das Volk drängte mit Geschrei hinten nach. Nach einiger Zeit wurde wieder Ruhe. Mit der eintretenden Dunkelheit begann aber der Raubzug vom neuen. Fenster und Türen wurden eingeschlagen, und was sonst zu finden war, wurde zertrümmert und geraubt, wo bei sich Schutzleute und Militär fleißig an den Plünderungen beteiligten. Brände von deutschen Gebäuden waren überall sichtbar. Wir Hatten Angst, daß auch wir den tobenden Massen zum Opfer fallen werden, deren durch die fortwährenden Niederlagen aufgestachelte Wut sich in Hab und Gut von unschuldigen Ansiedlern ein erwünschtes Ziel gesucht hatte.

Am nächsten Tag sah man nur Papierfetzen in großer Menge an allen Ecken und Enden. Auch wir Gefangene bekamen es wohl gründlich zu verspüren, wenn die Nachrichten von einem neuerlichen Rückzug, von abermaligen Schlappen der Russen eintrafen. Es war im Juli 1916. Da nagelten sie uns die Fenster zu und übertünchten sie mit Kalk, um uns die Aussicht zu verderben.


Zum Austausch bestimmt.

Natürlich wurde jetzt auch nichts mehr vom Austausch gesprochen. Desto freudiger war die Überraschung, als es plötzlich am 1. August hieß: Also morgen könnt ihr nach Hause fahren. Die Freude, die darob entstand, kann sich niemand' vorstellen. Ein jeder, und wenn er auch gar keinen Fuß hatte, kroch von einem Zimmer ins andere mit der erfreulichen Botschaft, keiner dachte mehr an sein trauriges Los. Auch die Blinden lachten mit sich selber und es kam ihnen vor, als wenn sie wieder sehend würden.

Die ganze Nacht war kein Schlaf mehr vorhanden, bald fing der zu singen an, bald ein anderer.

Am folgenden Morgen wurden wir alle einer gründlichen Musterung unterzogen, sämtliche Notizen von unseren Kameraden wurden uns genommen und man sagte uns, wer Aufschreibungen bei sich trägt, geht anstatt nach Hanse, nach Sibirien: das schreckte jeden.

Um 6 Uhr früh kamen die Wärter mit unserem Tee, dann wurden wir jeder einzelne genau untersucht.

Am 2. August um 10 Uhr vormittags ging es fort mit der Elektrischen. Wir zählten 400 Mann. Die Straßen waren voll besetzt von Neugierigen. Die einen weinten, die anderen drohten uns mit der Faust und wollten uns gar Steine nachschleudern. Endlich kamen wir um 12 Uhr mittags am Bahnhof an. Um 3 Uhr wurden wir einwaggoniert, jeder hungerte bis zur Bewußtlosigkeit. Eine Stunde später fuhr der Zug ab, um 6 Uhr bekamen wir Menage, und zwar sehr gut und genug.


Die letzten Tage in Rußland.

Am 6. August vormittags trafen wir in Petersburg ein. Der Zug lenkte zu unserem Schrecken in eine große Halle ein und unsere Freude war wieder aus: wir glaubten nämlich, hier bis zum Friedensschluß warten zu müssen. Von hier beförderte uns die Elektrische in eine riesige Kaserne, in der wir sechs Tage saßen bei miserabler Kost. Am 11. August erhielten wir Zivilkleider, alle mußten sich umziehen und ihre Uniform mittragen, alle waren nun gleich ausgerüstet mit schwarzem Überzieher, Stiefeln und Kappe. Hieraus schaffte uns die Tramway wieder zum Bahnhof, wo wir in einer Baracke vom Roten Kreuz mit Tee, Brot und Zigaretten bewirtet wurden. Wir bestiegen sodann einen hübschen Sanitätszug und dampften um 11 Uhr nachts ab über das finnische Seengebiet nach Tornea, wo wir übernachteten und an das schwedische Rote Kreuz übergeben wurden.



Auf schwedischem Boden!

In Tornea hatte die Gefangenschaft ein Ende. Wir konnten das Glück gar nicht fassen, wieder freie Menschen zu sein. Zu essen bekamen wir genug. Den anderen Tag ging es über die schwedisch-finnische Grenze, wo jedes kleine Plätzchen von einem Kosaken bewacht war. Die Reise durch Finnland und Schweden war sehr schön und überall herrschte die größte Reinlichkeit. Wir sahen in Schweden auch Renntiere in hauswirtschaftlicher Verwendung. Wir fuhren immer entlang dem Bottnischen Meerbusen. Die Landschaft bot nichts als Wald, Steine und Wasser.

In Haparanda legten wir uns neben dem Zug einige Stunden ins Gras. Die schwedische Bevölkerung brachte uns deutsche Zeitungen, die wir vor lauter Neugierde lieber ganz verschluckt hätten: so groß war unser Verlangen, die tatsächliche Lage kennen zu lernen, da wir in Rußland nichts erfahren hatten.

Mittags schieden wir von Haparanda und kamen nach dreitägiger Fahrt am 16. August in der wunderbaren Hafenstadt Trelleborg an. Das große Schiff mit seinen sanitären Einrichtungen stand schon für unsere Aufnahme bereit. Wir wurden über lange Treppen hinaufgeführt auf das Verdeck, die Schwerverwundeten in die eingerichteten Krankenzimmer.

Um 8 Uhr früh sagten wir Schweden und seinem gastfreundlichen Volk Lebewohl. Zu essen bekamen wir soviel, daß es dem stärksten Esser unmöglich war, es wegzubringen. Kaum waren wir eine Stunde auf der See, waren auch schon alle seekrank, schwindelig und fortwährend mit Erbrechen beschäftigt.

Nach fünf Stunden kam uns ein deutscher Dampfer zur Begrüßung entgegen. Unbeschreibliche Freude löste es bei allen aus, als wir das erste Wahrzeichen der Heimat gewahr wurden, und als das deutsche Schiff beidrehte und dann neben herfuhr, da rang es sich los aus sämtlichen Kehlen, das begeisterte Heil! und das deutsche Volkslied erscholl, von dem Jubel des Wiedersehens gestärkt und getragen: Deutschland, Deutschland über alles, Ueber alles in der Welt, Deutsche Mädchen, deutsche Frauen, Deutscher Wein und deutscher Sang! Deutschland, Deutschland über alles, Ueber alles in der Welt! Auch Kriegsschiffe unseres mächtigen Verbündeten fuhren um uns. Diese Reise bleibt mir unvergeßlich.

In deutschen Landen!

Endlich erblickten wir den weit ins Meer hinausragenden sandigen Rücken der sogenannten Haubenklinke. Um 2 Uhr 50 Minuten erreichten wir die wunderschöne deutsche Insel Rügen. Militärmusik spielte. Generale und andere Offiziere, sowie massenhaft Volk kamen zu uns aufs Schiff und brachten uns Blumen, Bier, Wein, Zigaretten usw.

Wir wurden aus dem Schiff herausgetragen und auf kleinen Sanitätswagen durch die ungeheure Menschenmenge geführt, die uns wie Triumphatoren mit Blumen und anderen Beweisen ihres freundlichen, bundesgenössischen Mitgefühls förmlich überschüttete. In der prächtigen Stadt Sasnitz wurden wir in verschiedenem Hotels einquartiert, trefflich bewirtet und am nächsten Tag bestiegen wir bereits einen österreichischen Zug, abermals von einer unabsehbaren Volksmenge empfangen und begrüßt. In ungefähr einer Stunde stand unser Zug wieder am Wasser. Je drei Waggons rollten auf ein Schiff und wurden so ans andere Ufer getragen nach dem herrlichen Stralsund, wo der Zug wieder zusammengestellt wurde.


Frohes Wiedersehen.

So fuhren wir über Pommern, Frankfurt, Teschen usw. nach Österreich.

An Kaiser Franz Josefs Geburtstag um 4 Uhr nachmittags trafen wir in Leitmeritz ein. Militär mit Musik empfing uns am Bahnhof. Generale hielten wunderschöne Ansprachen. Artillerie mit bekränzten Wagen führte uns in eine Kaserne, die als Spital diente und wo wir wieder reichlich mit Speise und Trank versorgt wurden.

Am 4. September kamen wir nach Reichenberg, wo uns nicht nur ein begeisterter Empfang zuteil wurde, sondern jeder auch vom Roten Kreuz eine Spende von 5K. erhielt. Im dortigen Spital gefiel es uns sehr wohl und die Deutschböhmen ließen ihrer in puncto Gastfreundschaft und liebevoller Aufmerksamkeit nicht spotten. Wir erhielten dort die künstlichen Glieder und am 18. Dezember 1915 trat ich die Heimreise an.

Ich telegraphierte meinem Weib, welches mich mit meinem Hansl in Attnang schon erwartete.


Wiedersehn!

Wer vermag es zu erfassen, was es heißt, ein lang erstrebtes Ziel von Wünschen und schwachen Hoffnungen erreicht zu sehen, wer vermöchte all die Gefühle der Freude in diesem Augenblick zu beschreiben, Sie auf den einstürmen, der so lange am Rand des Lebens geschwebt, so oft schon an allen irdischen Freuden verzweifelt hat und nun das in Wirklichkeit erfüllt sich, was er sich kaum mehr zu erwarten getraut!

Am 22. Dezember in Salzburg superarbitriert, kehrte ich bereits folgenden Tag zurück ins Vaterhaus, heim zu meinen Lieben, die ich freilich nicht mehr alle am Leben traf. Ich hätte wohl nie geglaubt, noch einmal meine Heimat zusehen.

Indem ich hiermit meine Aufzeichnungen beende, spreche ich allen, die mir in meiner Soldatenzeit oder nachher Gutes erwiesen," meinen herzlichsten Dank aus, vor allem der löblichen Salinenverwaltung Hallstatt und den Goiserern, die mir so liebevoll entgegengekommen sind.

Zum Schlüsse sei auch noch mitgeteilt, daß mir das k. u. k. 88. Korpskommando für hervorragend tapferes Verhalten vor dem Feinde die Silberne Tapferkeitsmedaille 1. Klasse verliehen hat.

Und noch eines möchte ich zum Schlüsse anfügen:Mich freut es noch heute trotz der vielen und schweren Leiden, die ich durchzumachen hatte, und bin stolz darauf, dem tapferen 59er-Regimente anzugehören.

Joses Stadler, Hallstatt, Lahn Nr» 64.



Neue Warte am Inn, 6. Mai 1917


Neue Warte am Inn, 13. Mai 1917


Neue Warte am Inn, 27. Mai 1917

31 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Commentaires


bottom of page